Als Grace und ich am Club ankamen, in dem ihr Kommilitone seinen Geburtstag feierte, musste ich feststellen, dass ich ihn bereits kannte. Er hieß Fabric und war ein sehr gehypter Nachtclub. In meinen ersten Wochen in London hatte ich einen Abend hier verbracht. Schon damals war ich so wenig beeindruckt, dass ich kein Bedürfnis hatte, ein zweites Mal hierher zu kommen. Nachdem wir den Club betraten, fiel mir auch wieder ein, warum das so war. Die Musik war elektronisch und eintönig, zu der man sich nur schwer bewegen konnte, zu viele Menschen und schlechte, übermäßig teure Drinks, bei denen am nächsten Morgen ein Kater vorprogrammiert war. Trotzdem versuchte ich, etwas Spaß zu haben und das Beste aus dem Abend zu machen. Vergeblich. Das Einzige, was ich tun konnte, war mich zu betrinken, um nicht frustriert zu sein, dass ich meine gemütliche Couch verlassen hatte.
„Ich gehe", lallte ich in Graces Ohr, nachdem ich meinen vierten Caipirinha ausgetrunken und das leere Glas vor mir auf dem Stehtisch abgestellt hatte, an dem sie und ein paar weitere Juristen standen und über internationales Steuerrecht debattierten.
„Du langweilst dich, oder? Tut mir leid, dass ich dich überredet habe, mitzukommen. Ich hätte wissen müssen, dass es nur um die anstehende Prüfung gehen wird", entschuldigte sie sich und beugte sich etwas in meine Richtung, um mich gleich darauf zu umarmen.
„Ist nicht schlimm. Es war schön, dich zu sehen, egal wo", antwortete ich und erwiderte ihre herzliche Umarmung für einen Moment.
„Schreib mir, wenn du zuhause bist, okay? Vielleicht komme ich morgen Nachmittag mal vorbei, und wir trinken einen Tee. Wäre das in Ordnung?", fragte sie, als sie sich wieder von mir gelöst hatte und mich ansah. Ihre Wangen glühten etwas von dem Alkohol, den sie getrunken hatte.
„Sicher", gab ich zurück und schenkte ihr zum Abschied ein kleines Lächeln. Dann griff ich nach meiner Tasche, die neben meinem leeren Glas auf dem Tisch stand, machte eine kurze Handbewegung in die Runde, die von keinem anderen wahrgenommen wurde, und verließ den Club mit taumelndem Schritt, um zu verschwinden...
Als ich aus dem Club trat und die kühle Nachtluft auf meiner leicht verschwitzten Haut und in meiner Lunge spürte, warf ich einen kurzen Blick auf mein Telefon, um die Uhrzeit zu checken. Überrascht stellte ich fest, dass die Zeit schneller vergangen war, als ich gedacht hatte.
Während ich mit verschwommener Sicht auf den hellen Bildschirm meines Telefons starrte und im Internet nach einer Verbindung suchte, die mich nach Hause bringen würde, erwischte ich mich dabei, wie meine vom Alkohol vernebelten Gedanken plötzlich zu Sawyer schweiften. Ich musste mir eingestehen, dass er mir etwas fehlte. Nicht er persönlich, sondern das, was wir am Laufen hatten. Die spontanen Verabredungen und das, was er mit meinem Körper anstellen konnte, so dass ich mich gut fühlte – immer und immer wieder... Das war es, was ich jetzt gerade in diesem Moment wollte und brauchte.
Obwohl einem Teil in mir bereits jetzt bewusst war, dass ich es morgen im nüchternen Zustand bereuen würde, wenn ich zu ihm in die Bar fahren würde, konnte ich dem nicht widerstehen. Mein vernebelter Verstand wehrte sich vehement gegen alle rationalen Gedanken, die versuchten, mich davon abzuhalten.
Ehe ich mich versah, fand ich mich eine gute halbe Stunde später vor Sawyers Bar wieder. Der Weg vom Fabric bis hierhin ging schneller als ich erwartet hatte, zu meinem Bedauern. Vielleicht wäre mein Verstand bei einer längeren Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln klarer geworden, so dass ich mich im letzten Moment doch gegen diese dumme, impulshafte Idee entschieden hätte.
Als ich für einen Augenblick vor dem Laden stehen blieb und meinen Blick von der Straße in die beleuchtete Bar hineinrichtete, soweit dies möglich war, musste ich feststellen, dass sie leer war. Etwas verwirrt blickte ich kurz auf mein Telefon. Es war halb 2 Uhr morgens, eigentlich keine Uhrzeit, zu der die Bar leer sein sollte, schon gar nicht an einem Freitag.
Mit langsamen, noch immer taumelnden Schritten stieg ich die paar Stufen hoch, die sich vor dem Eingang befanden. Als ich an der geschlossenen Glastür ankam, machte ich erneut halt. Augenblicklich konnte ich spüren, wie mein Herz bei dem Gedanken zu rasen begann, dass ich in den nächsten paar Sekunden hineingehen und ihn sehen würde. Wäre Sawyer nicht solch ein unberechenbarer Charakter, würde ich mir möglicherweise weniger Gedanken darüber machen. Obwohl er freundlich war, als wir uns das letzte Mal voneinander verabschiedet hatten, wusste ich nicht, wie er heute gestimmt sein würde. Was ich allerdings wusste, ist, dass er es aus irgendeinem Grund nicht mochte, wenn ich hierher kam.
Anstatt eine clevere Schlussfolgerung aus dieser Tatsache zu ziehen und zu gehen, legte ich meine Hand an die Tür und drückte sie kräftig auf. Aus mir unbekannten Gründen hatte ich die Erwartung, dass ich Kraft aufwenden musste, um die Tür zu öffnen, was nicht der Fall war. Die Tür öffnete sich mit Leichtigkeit, so dass ich ein paar Schritte nach vorne taumelte und das Gleichgewicht verlor. Ich versuchte, mich noch am Türrahmen festzuhalten, fand mich jedoch innerhalb von ein paar Sekunden auf dem harten Fußboden wieder. Erschrocken von dem unerwarteten Kontrollverlust keuchte ich auf.
Aus dem Augenwinkel, nur ein paar Schritte von mir entfernt, vernahm ich die Präsenz einer Person. Meine Augen legten sich zuerst nur auf die schwarzen, teuer aussehenden Schuhe, bevor sie anschließend ganz langsam von unten nach oben in das Gesicht wanderten. Daraufhin stockte mein Atem kurz.
„Hast du dich verirrt, Sonnenschein?", fragte Blake, der mit seiner vollen Größe vor mir stand und mit einem süffisanten Gesichtsausdruck zu mir hinunter sah. Seine Hand war lässig in eine der Taschen seiner Anzughose geschoben, in der anderen hielt er ein Glas, aus dem er einen Schluck nahm.
„Nein", entgegnete ich, als ich das Gefühl hatte, meine Stimme wiedergefunden zu haben. Dabei erhob ich mich mit wackeligen Beinen vom Boden. „I-ich wollte einen Drink. Ich wusste nicht, dass die Bar heute geschlossen ist", fügte ich hinzu, als er überrascht die Augenbrauen hob. Ich hielt es für schlau, zu sagen, dass dies der Grund für meinen Besuch war - ein Drink, mehr nicht. Ich war nicht besonders scharf darauf, dass dieser Typ mitbekam, dass Sawyer und ich etwas miteinander hatten. Deshalb hoffte ich auch, dass er es nicht bereits wusste.
„Offensichtlich wolltest du so sehr einen Drink, dass du dafür sogar auf deine Knie gehst", sagte er und machte dabei ein paar Schritte auf mich zu. „Eine Perspektive, die dir übrigens sehr gut steht." Nun wanderte sein Blick auffällig an mir herab, aber fand dann nach kurzer Zeit zurück zu meinen Augen, als ich meine Arme vor der Brust verschränkte. Ich trug ein schwarzes Kleid, welches mir bis zur Mitte meiner Oberschenkel reichte und vorne recht tief ausgeschnitten war. Darüber trug ich eine Lederjacke, über die ich froh war, da ich mich damit in diesem Moment nicht ganz so unbekleidet fühlte.
„Ist dieses Macho-Getue eigentlich eine Masche, um ein minderwertiges Inneres zu überspielen, oder bist du wirklich so unangenehm?", fragte ich jetzt ehrlich und versuchte nicht nach hinten zu weichen, als er mir etwas näher kam. Ich wollte ihm nicht zeigen, dass seine Präsenz mich unbehaglich fühlen ließ, auch wenn es so war.
„Lass dich drauf ein und finde es heraus", gab er jetzt mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen wieder. Ich erwischte mich dabei, wie ich für den Bruchteil einer Sekunde tatsächlich darüber fantasierte. Die Ähnlichkeit zu Sawyer und die damit verbundene Attraktivität war verblüffend.
„Ich verzichte", antwortete ich knapp und versuchte seinem eindringlichen Blick standzuhalten. Überraschenderweise schien er heute nicht high zu sein, wie die letzten zwei Male, in denen ich ihm begegnet war.
Nachdem diese Worte meinen Mund verlassen hatten, wirkte sein Ausdruck plötzlich ziemlich amüsiert. Es war ihm ins Gesicht geschrieben, dass ihm etwas durch den Kopf ging, das er aussprechen wollte, aber das tat er nicht. Denn genau in diesem Moment wurde die Situation unterbrochen, als Sawyer in den vorderen Bereich der Bar trat und eine große Kiste mit Flaschen mit einem dumpfen Knall hinter dem Tresen abstellte, so dass ich augenblicklich meine Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Sofort merkte ich, wie die Frequenz meines Pulses wieder anstieg.
„Du hast Besuch, Saw", sagte Blake nun. Mit einem minimalen Schmunzeln auf den Lippen wandte er sich jetzt von mir ab und sah, genau wie ich, in die Richtung von Sawyer, der uns gegenüber auf der anderen Seite der Bartheke stand und langsam seinen Blick hob, so dass er meinen traf...
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Between Tears and Whisky Sour
Teen Fiction{1. Teil der Preposition-Trilogie} Nachdem June die Liebe ihres Lebens in flagranti erwischt, verlässt sie ihre Heimat Atlanta und zieht nach London. Sie verspricht sich, nie wieder eine Träne für ihr vergangenes Leben, ihren Ex-Freund oder sonst ei...