„Ms. Collister?", riss mich die etwas besorgt klingende Stimme die Gynäkologin aus meiner Trance, weshalb ich langsam zu ihr aufsah. Mit meinem leeren Blick hatte ich gefühlt die letzten 20 Minuten auf das beidseitig beschriebene Informationsblatt gestarrt, das vor mir auf dem hellen Schreibtisch lag. Mit einem Kugelschreiber in der Hand saß sie mir gegenüber und fuhr damit über die einzelnen Zeilen, um mir diese zu erklären. Ich nahm allerdings außer den möglichen Komplikationen nichts von all dem wahr, was sie mir sagte. „Haben Sie noch Fragen an mich?", ergänzte sie, als ich meine volle Aufmerksamkeit wieder auf sie gerichtet hatte.
Als ich sie nach dem abrupten Ende unseres letzten Telefonates einen Tag später zurückrief, bat sie mich, zu einem persönlichen Aufklärungs- und Informationsgespräch zu ihr in die Praxis zu kommen. Nun saß ich in einem weißen Raum, der so steril aussah, dass man die Abtreibung direkt auf dem Schreibtisch hätte durchführen können. Ein leichter Geruch von Desinfektionsmittel lag in der Luft.
„Nein, alles glasklar", antwortete ich und schüttelte dabei meinen Kopf. Man würde mir die Gebärmutter ausschaben, während ich ein kleines Schläfchen hielt. Danach müsste ich mich für ein paar Stunden in einem anderen Zimmer ausruhen aber dürfte später nach Hause gehen. An sich keine große Sache...
„Dann darf ich den Termin für morgen fixieren?", fragte sie, wobei sich ein warmes und freundliches Lächeln auf ihre Lippen legte. Es wirkte so, als wollte sie mich mit ihrem Lächeln ermutigen. Womöglich, weil mir anzumerken war, dass ich einen Widerstand in mir hatte. Nicht, weil mir etwas an dem Fötus lag, sondern weil ich mich dennoch vor dem Eingriff fürchtete. Ich vermutete, ich würde die Abtreibung so weit wie möglich nach hinten verschieben, was mir die ganze Situation letztendlich noch schwerer machen würde. Denn solange dieses Ding in mir drin war, konnte ich gedanklich nicht davon loskommen.
Obwohl ich für den Bruchteil einer Sekunde gestockt hatte, nickte ich schließlich. Ich wollte das nicht tun müssen und biss mir dafür in den Arsch, dass ich in dieser Situation gelandet war. Aber jetzt, in diesem Augenblick, musste ich mich erwachsen verhalten und Verantwortung für etwas übernehmen, das wahnsinnig wichtig war. Und das würde ich...
Nachdem ich die große Praxis verlassen hatte, hielt ich für einen kurzen Moment vor der Tür des Wohnhauses inne und blickte vor mich auf die verregnete Straße. Es dämmerte bereits, und der Regen prasselte mit einer Wucht auf den grauen Asphalt nieder. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Fast wie von selbst führten mich meine Füße weg von dem überdachten und vom Feuchtigkeit geschützten Bereich an der Tür und geradewegs hinein in den Dauerregen. Eine gewaltigen Gänsehaut übersäte meinen kompletten Körper, als innerhalb von ein paar Sekunden meine Kleidung von der kalten Flüssigkeit durchnässt wurde und bis zu meiner Haut drang.
Es war mir egal, dass ich krank werden könnte, als ich eine Ewigkeit ziellos, klatschnass und frierend durch die leeren und immer dunkler werdenden Straßen von London lief. Ich wusste nicht, wo ich hinwollte – überall hin, nur nicht nach Hause, denn ich ertrug den Gedanken nicht, dort mit mir allein zu sein. Ich versuchte zu rekonstruieren, warum ich mich so wahnsinnig vor dem Eingriff fürchtete. Ich war jung und gesund, und diese Art der Abtreibung wurde täglich bei vielen Frauen ohne Komplikationen durchgeführt. Die Wahrscheinlichkeit, dass mir dabei etwas passieren würde, war extrem gering.
Komplett in Gedanken verloren, mit auf den Boden gesenktem Blick, lief ich immer weiter, bis ich nach einer Weile für einen kurzen Augenblick stehenblieb, um mich umzusehen. Nachdem ich meinen Blick aufgerichtet hatte und meine Augen in der Umgebung umherwandern ließ, machte mein Herz einen kurzen Aussetzer, als ich realisierte, wo ich war. Ich befand mich an einer Querstraße, gegenüber von Sawyers Bar.
Die Tränen, die sich nun in meinen Augen sammelten und nach und an meinen Wangen entlangrannen, mischten sich mit dem Regen, der ebenfalls über mein Gesicht lief, als ich in die Richtung der Bar sah. Schmerzlich realisierte ich, dass es das war, was mein Herz, mein Körper und mein Unbewusstes wollten, auch wenn es mein Kopf nicht wollte. Ich sehnte mich so sehr nach ihm, dass ich nicht in der Lage war, mich von ihm fernzuhalten. Ich sehnte mich nach seiner Stimme, nach seinem Geruch und nach seinen Berührungen auf meiner Haut. Meine Gefühle ihm gegenüber waren der Grund dafür, warum es mich aktuell so elend ging. Und ich vermutet, dass er die einzige Person war, die mir diesen Schmerz, wenn es auch nur für einen kurzen Moment wäre, nehmen konnte.
Ich musste mit ihm sprechen – über die Schwangerschaft oder dass ich mich in ihn verliebt hatte. Über irgendetwas, das die Möglichkeit eröffnete, aus dieser Situation herauszukommen. Denn jetzt gerade steckte ich fest. Ich befand mich in einem Teufelskreis, den ich selbst nicht durchbrechen konnte. Ich musste die Verantwortung an ihn abgeben und hoffen, dass er etwas tat, das alles zum Ende brachte...
Nachdem ich mir mit der Hand über meine Wangen gewischt hatte, die aufgrund des Regens noch immer nass blieben, lief ich mit entschlossenen Schritten über die Straße und steuerte direkt auf den Eingang der Bar zu. Damit ich keinen Rückzieher machen konnte, lief ich ohne ein weiteres Mal stehen zu bleiben, die Stufen zur Eingangstür nach oben und öffnete sie daraufhin. Mein Herz raste so schnell in meiner Brust dass ich das Gefühl hatte, jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen.
Tropfend machte ich ein paar Schritte in den leeren Laden hinein und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Mein Atem ging so schnell, dass man hätte denken können, dass ich einen Sprint hingelegt hatte. Ich versuchte, mich zu beruhigen, aber scheiterte kläglich, als ich Schritte aus dem hinteren Teil der Bar vernahm, die auf mich zukamen. Ich hatte mir noch nicht überlegt, was ich sagen würde..
Die Person, die aber einen kurzen Augenblick später auf der Bildfläche auftauchte, war nicht Sawyer. Es war ein anderer Typ, den ich zuvor noch nie gesehen hatte. Er hatte Ginger-Haar und trug ein weißes Hemd mit eine Barschürze darüber. Bis auf sein Gesicht war jede sichtbare Stelle seiner Haut mit Tattoos bedeckt. Er hielt eine große Kiste mit Eis in seinen Händen.
„Wir öffnen erst um 21:00 Uhr", sagte er streng und stellte die Kiste auf dem Tresen ab.
„Ich weiß, ich wollte zu Sawyer. Ist er da?", fragte ich und strich mir meine triefenden Haare aus dem Gesicht und hinter die Ohren. Mein Gesicht fühlte sich plötzlich glühend heiß an.
„Nein, erst morgen wieder. Kann ich dir vielleicht helfen?", antwortete er und stützte seinen Arm nun auf dem Rand der Kiste ab, um daraufhin zu mir zu sehen. Seine Augen wanderten für einen kurzen Moment an meinem durchweichten und nun etwas zitternden Körper hinab. Wenn ich an die Nacht zuvor zurückdachte, wunderte es mich nicht, dass Sawyer heute nicht hier war. Womöglich schlief er seinen Kater aus.
„Danke", entgegnete ich und nickte ihm kurz zu. Daraufhin drehte ich mich wieder zur Tür um und ging mit langsamen Schritten auf sie zu, um zu verschwinden. Mein rasender Herzschlag ließ immer mehr nach.
„Wenn du mir sagst, wie du heißt, richte ich ihm aus, dass du da warst", fügte der Barkeeper hinzu, sodass ich ein weiteres Mal an der Tür haltmachte, mich umdrehte und zu ihm zurücksah.
„Das ist nicht nötig", erwiderte ich kopfschüttelnd und lächelte ihn etwas an, bevor ich mich erneut umdrehte, die Tür öffnete und wieder nach draußen in den kalten Regen trat.
Vielleicht war es gut, dass Sawyer nicht hier war. Vielleicht hatte das Schicksal für mich entschieden und mich vor einem großen, unwiderrufbaren Fehler bewahrt. Vielleicht war dies das endgültige Zeichen, das ich brauchte, um zu verstehen, dass es nicht sein sollte. Obwohl ich kein spiritueller Mensch war, konnte es kein Zufall sein, dass es bei beiden Malen, bei denen ich mich überwunden hatte, ehrlich zu ihm zu sein, nicht klappte.
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Between Tears and Whisky Sour
Teen Fiction{1. Teil der Preposition-Trilogie} Nachdem June die Liebe ihres Lebens in flagranti erwischt, verlässt sie ihre Heimat Atlanta und zieht nach London. Sie verspricht sich, nie wieder eine Träne für ihr vergangenes Leben, ihren Ex-Freund oder sonst ei...