58. Kapitel

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„Fick dich, Sawyer", waren die nächsten Worte, die aus meinem Mund kamen, nachdem ich für einen kurzen Augenblick fassungslos über seine Aussage geschwiegen hatte. Die einzigen Worte, von denen ich glaubte, dass sie in diesem Moment angebracht waren. Denn das sollte er tun – sich ficken. Wie eine Ohrfeige hatte er sie mir ohne Vorwarnung ins Gesicht geschlagen, und das, obwohl er sah, wie es mir gerade in der Situation ging.

Aufgrund der Tränen in meinen Augen, die an meinen Wangen entlang liefen, bis sie von meinem Kiefer hinunter auf meine Brust tropften, verschwamm meine Sicht erneut zunehmend. Ich musste mit mir kämpfen. Wäre ich gerade alleine gewesen, hätte ich stärker geweint. Bitterlicher.

Als ich mich dazu gezwungen hatte, ihn in den langen Sekunden zwischen seinen und meinen letzten Worten weiter anzusehen, konnte ich spüren, wie sich der feste Griff seiner Hände um meine Handgelenke lockerte, bis er ihn schließlich löste. Der Moment, in dem ich endlich aufstehen konnte, um aus dieser widerlichen Szene zu verschwinden.

Schnell griff ich nach einem der beiden feuchten Handtücher, die mit uns im Bett lagen, und stand dann hastig von seinem Schoß auf. Doch in dem Moment, als meine nackten Füße den Parkettboden seines Schlafzimmers berührten, versagten meine zittrigen und schwachen Beine, sodass ich unsanft auf die Knie und schließlich zu Boden ging. Obwohl mein Kopf mich anwies, aufzustehen, tat mein Körper es nicht. Mit meinen Armen umklammerte ich das Handtuch und versuchte mich notgedrungen damit zu bedecken.

Mein Atem ging schwer und unregelmäßig. Als würde ich unter Schock stehen, starrte ich auf einen Punkt vor mir auf dem Holzboden. Aus dem Augenwinkel vernahm ich Sawyers Bewegungen, wie er nach dem anderen Handtuch griff und es sich um die Hüfte band, während er langsam aufstand. Dann, kurz danach, spürte ich die Berührung seiner Hände an meinen Armen. Er wollte mir helfen, vom Boden aufzustehen.

„N-Nimm deine Hände weg. Fass mich nie wieder an", fauchte ich zwischen meinem Schluchzen und windete mich. Er sollte es nicht wagen, mich ein weiteres Mal in diesem Leben zu berühren. 

Zu meinem Glück kam er meinen Worten nach und ließ von mir ab. Daraufhin richtete er sich auf, machte ein paar gemächliche Schritte um mich herum, in mein Blickfeld und blieb dann mit einem kleinen Abstand vor mir stehen.

„Wenn wir uns in einem anderen Leben kennengelernt hätten, wären meine Gefühle anders", sagte er und durchbrach mit ernster Stimme die Stille zwischen uns. „Dein Schmerz wird vergehen, June, auch wenn es sich jetzt gerade nicht so anfühlt", fügte er hinzu, nachdem er erneut für einen kurzen Augenblick geschwiegen hatte, um nachzudenken. Ich spürte deutlich seinen Blick auf mir, als er auf mich herabsah. 

Daraufhin wendete er sich von mir ab und lief zurück ins Badezimmer, wo er die Tür hinter sich schloss, sodass ich alleine auf dem Boden seines Schlafzimmers vor dem Bett zurückblieb. Als ich das Geräusch vernahm, richtete ich meinen Blick auf die geschlossene Tür. Dabei wischte ich mir die Tränen aus meinem Gesicht. Ich wusste, dass er ins Bad ging, um mir die Möglichkeit zu geben, seine Wohnung zu verlassen, ohne ihn ein weiteres Mal ansehen zu müssen – eine überraschend respektvolle Geste seinerseits.

Mit meinen Händen stützte ich mich nun am Boden ab und versuchte erneut aufzustehen, was diesmal funktionierte. Ich wickelte mir das Handtuch wie ein provisorisches Kleid um meinen Körper und lief dann, fast taumelnd, auf die Treppe zu, die nach unten führte. Mit beiden Händen umklammerte ich das Geländer, während ich mit zügigen Schritten über die Stufen lief.

Unten angekommen, rannte ich fast zurück in das Gästezimmer, wo ich innerhalb von Sekunden, als würde mich jemand jagen, meine noch warme Kleidung aus dem Trockner riss. Obwohl ich wusste, dass ich mich nicht beeilen müsste, tat ich es. Ich wollte schleunigst hier raus. Nachdem ich das Handtuch auf den Boden fallen ließ, zog ich mir ein Kleidungsstück nach dem anderen an, so dass ich innerhalb der nächsten halben Minute aus dem Zimmer, durch den Flur und aus der Wohnungstür lief.

Als ich die Wohnungstür geräuschvoll hinter mir ins Schloss gezogen hatte, fiel mein Blick sekundenschnell auf den Fahrstuhl vor mir. Genauso schnell, wie ich ihn erblickt hatte, ignorierte ich ihn und rannte zielstrebig die langen Treppen hinunter durch das Wohnhaus. Ich hatte aus der Situation beim letzten Mal gelernt. Ich würde nicht erneut riskieren, dass er mich aufhalten konnte.

Während ich schwer atmend und mit Herzklopfen eine Stufe nach der anderen machte, fühlte es sich an, als würde ich versuchen, vor dem wegzulaufen, das mir im Nacken saß und mich einholen wollte. Als könnte ich vor dem Schmerz in meiner Brust und vor den Erfahrungen und Erinnerungen mit Sawyer fliehen, sie abschütteln und somit vermeiden, dass sie mir etwas anhaben konnten. Aber ich wusste, dass wenn ich die letzten Stufen gemacht hatte und unten angekommen war, ich mich genauso elend fühlen würde wie oben. Und dass es in den nächsten Stunden, Tagen, Wochen und vielleicht sogar Monaten noch schlimmer werden würde. Denn ich war ein Mensch mit Gefühlen und keine Maschine, die ich programmieren konnte, um nichts zu fühlen, auch wenn es für eine Weile gut funktioniert hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich auf jemanden traf, der mich dazu bringen würde, etwas zu fühlen. Und zu meinem Bedauern war es Sawyer, ein Kerl, den ich nur durch Zufall kennengelernt hatte, als ich in einer Bar auf Grace gewartet hatte.

Ein Kerl, der bei mir mit seiner kalten und herablassenden Art auf Anhieb einen schlechten ersten Eindruck hinterlassen hatte. Und einen zweiten und auch dritten... Und trotzdem war ich so dämlich gewesen und hatte mich darauf eingelassen, etwas mit ihm anzufangen. Womöglich wollte ich es nicht wahrhaben und redete mir ein, dass ich meine Gefühle im Griff hatte – typische Selbsttäuschung. Aber ich hatte genügend wissenschaftliche Studien gelesen, die belegten, dass es für Frauen fast unmöglich war, wiederholten Sex mit einem Mann zu haben, ohne Gefühle zu entwickeln. Denn wir Frauen waren Opfer von Oxytocin..

Je weiter ich mich dem Ausgang des Wohnhauses näherte, desto klarer wurde mir etwas: Der Widerstand, den ich die ganze Zeit über verspürt hatte – derjenige, der mich davon abgehalten hatte, ihm von der Schwangerschaft zu erzählen –, hatte mich vor einem Fehler bewahrt, den ich am Ende womöglich bitterlich bereut hätte. Wenn seine Reaktion auf meine Gefühle ihm gegenüber bereits so eiskalt war, wie hätte er auf das andere reagiert? Allein die Vorstellung daran jagte mir einen Schauer über den Rücken, wodurch ich wusste, dass er es niemals aus meinem Mund erfahren würde. Denn sobald ich aus dem Wohnhaus auf die dunkle und verregnete Straße trat, würde ich Sawyer nie wiedersehen...

Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt