1. Kapitel

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June {1,5 Jahre früher}

Seufzend klappte ich das schwere Buch zu, das vor mir auf dem massiven Holztisch der Bibliothek lag. Seit 8 Uhr morgens saß ich hier und arbeitete mich durch die Unterlagen des Seminars "Theorien und Techniken des Psychologischen Diagnostizierens". Vor mehr als 3 Jahren hatte ich mein Psychologie-Studium hier in Atlanta begonnen. Mein damals 18-jähriges Ich hätte sich definitiv gegen diesen Studiengang entschieden, wenn es gewusst hätte, wie mein Leben von da an aussehen würde: 7 Tage die Woche, mindestens 8 Stunden in der muffigen Bibliothek des Campus lernen.

Ich warf einen Blick auf die Uhrzeit auf meinem Smartphone und freute mich, als ich sah, dass es erst kurz nach 17:00 Uhr war. Normalerweise verließ ich die Uni nicht vor 20:00 Uhr. Voller Vorfreude auf den kommenden Abend packte ich meine Unterlagen zusammen und verstaute sie in meiner Tasche. Ich plante eine Überraschung für meinen Freund, die Liebe meines Lebens, Aiden. Wir waren zusammengekommen, als wir 15 waren. Er hatte gerade sein Studium in Journalismus an einer anderen Universität hier in Atlanta abgeschlossen und einen sehr begehrten Platz für ein halbjähriges Praktikum bei der New York Times ergattert. Seit wir uns auf der High School kennengelernt und verliebt hatten, wusste ich, dass es sein größter Traum war, in der Zukunft dort fest angestellt zu sein.

Aidens Plan war auch der Grund, weshalb ich mein Studium von Beginn an so ernst nahm. Wir planten, nach New York zu ziehen, wenn ich meinen Bachelor in einem Jahr abschloss. Er hoffte darauf, dass ihm das Praktikum bei der Times eine Tür öffnen würde und wir dort für immer bleiben könnten. Was ich danach machen würde, wusste ich allerdings noch nicht, denn mein Plan, den ich mir vor 6 Jahren zurechtgelegt hatte, endete dort. Vielleicht würde ich mir einen Job suchen, um erstmal das Geld zu verdienen, das ich für das Fortsetzen meines Studiums in New York benötigen würde, falls es überhaupt dazu kommen würde.

Ein paar meiner Kommilitoninnen sagten mir, dass es naiv sei, nach New York zu ziehen, ohne einen richtigen Plan zu haben, aber das war mir egal. In dem Punkt war ich stur. Das war ich schon immer. Oder besser gesagt, mein Herz war es. Jedes Mal, wenn mir der Gedanke kam, dass es womöglich ein Fehler wäre, schob ich ihn einfach weg. Ich wollte nicht hier bleiben, wenn Aiden nicht mehr hier war. Die Person, die ich war, war ich nur mit ihm. Ich wollte kein Leben ohne ihn führen. Ohne ihn hier zu bleiben, wäre schlimmer, als in New York zu scheitern.

Schwer atmend erreichte ich die oberste Etage des Wohnhauses, in dem Aiden seine kleine Wohnung hatte. Es war ein altes Haus mit undichten Fenstern, durch die der Wind pfiff, weshalb es im Treppenhaus immer sehr kühl war. Die weiße Farbe an den Türen der Wohnungen und am Geländer blätterte bereits durch die Feuchtigkeit, die durch die Fenster hineindrang, ab. Wenn man danach griff, blieben an den Händen immer ein paar Farbsplitter zurück. Obwohl er hier schon seit Ewigkeiten wohnte und ich diese Treppen bestimmt schon tausendmal gestiegen war, hatte ich mich nie daran gewöhnt. Jedes Mal, wenn ich oben ankam, brannten meine Waden.

Es war fast 18:00 Uhr, und ich hatte schnell etwas zu essen bei dem kleinen asiatischen Restaurant besorgt, in das wir so gerne gingen. Außerdem hatte ich eine Flasche Wein mitgebracht, um später mit ihm anzustoßen. Aiden arbeitete aktuell bei einer örtlichen Zeitung und würde wie immer gegen 18:30 Uhr hier sein.

Etwas verwundert schloss ich die Haustür auf. Sie war nicht abgeschlossen. Hatte er heute Morgen vergessen, abzuschließen, oder war er bereits zu Hause? Leise öffnete ich die Tür und zwängte mich in den Flur. Es war fast komplett dunkel, als ich die Haustür hinter mir schloss. Nur ein schmaler Spalt Licht fiel durch die angelehnte Schlafzimmertür am Ende des Flurs. Ich hörte leise Musik. Augenblicklich schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Wahrscheinlich war auch er früher von der Arbeit gekommen, um etwas für heute Abend vorzubereiten. Aiden gehörte schon immer zu den romantischen Männern, die sich nicht schämten, es zuzugeben.

Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt