54. Kapitel

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Mein Körper bebte von der eisig kalten Nässe, die sich innerhalb der letzten 20 Minuten in jeden einzelnen Quadratzentimeter meines Körpers ausgebreitet hatte. Der Regen und der Wind, der durch die dunkle Nacht wütete, war so unkontrollierbar geworden, dass er mich nicht einmal mehr länger unter dem hervorstehenden Türrahmen des Gebäudes verschonte.

Meinen leeren Blick hatte ich auf einen Punkt vor mich auf den mit Pfützen übersäten Asphalt gerichtet, aber hob ihn langsam, als ich die hellen Scheinwerfer eines in die Straße fahrenden Autos wahrnahm. Allmählich näherte es sich mir und machte anschließend direkt vor mir auf der Straße halt, so dass ich erkennen konnte, dass es Sawyers Wagen war. Obwohl die Fensterscheiben getönt waren und ich ihn deshalb nicht erkennen konnte, vermutete ich, dass er zu mir nach draußen sah. Ich wusste, dass er darauf wartete, dass ich zu ihm ins Auto stieg, weshalb sich meine Füße in Bewegung setzen sollten, aber das taten sie nicht. Sie rührten sich keinen Zentimeter.

Es vergingen einige lange Sekunden, bevor ich erneut das kräftige Vibrieren meines Telefons in meiner hinteren Hosentasche vernahm. Ohne meinen Blick von dem dunklen Fenster der Fahrerseite zu lösen, zog ich es aus meiner Hosentasche und hob es mit von der Kälte zitternder Hand an mein Ohr.

„Steig ein", wies er mich mit gewohnt rauer Stimme an.

„Sawyer, ich...", antwortete ich stockend. Ich bekam kein weiteres Wort heraus. Ich konnte nicht. Mein Körper konnte nicht. Innerlich verzweifelte ich, denn ich wusste nicht, was plötzlich mit mir los war. Noch gestern konnte ich ihm gegenüberstehen und mit ihm reden, und heute blockierte allein der Gedanke daran meinen Körper und meinen Verstand.

Innerhalb des nächsten kurzen Augenblicks brach der Anruf ab, und die Fahrertür öffnete sich schwungvoll, was meinen Puls innerhalb von ein paar Sekunden nach oben trieb. Mit seinem ernsten Blick auf mich gerichtet, stieg er aus dem Auto aus, schloss die Tür mit einer kräftigen Bewegung und kam dann zügig durch den strömenden Regen auf mich zu gelaufen, wo er einen kurzen Moment später vor mir Halt machte, um mich anzusehen. Der Ausdruck in seinem Gesicht machte deutlich, dass er angepisst war. Die Stille, die zwischen uns herrschte, war so erdrückend, dass ich merkte, wie sich wieder ein paar kleine Tränen in meinen Augen sammelten und meine Sicht zunehmend verschwimmen ließen. Tränen die zu klein waren um sich einen Weg an meinen Wangen entlang zu bahnen aber dennoch groß genug waren, dass auch Sawyer sie wahrzunehmen schien, woraufhin seine harten Gesichtszüge etwas weicher wurden.

„Was ist los mit dir, June?", fragte er nun mit ruhigerer Stimme und lehnte sich mir schräg gegenüber gegen die Backsteinmauer des Gebäudes. Dass der Regen ihn langsam immer nasser machte, schien ihn in dieser Situation recht wenig zu stören. Seine Aufmerksamkeit lag nur in meinem Gesicht, während er zwischen meinen Augen hin und her sah, als würde er versuchen, meine Gedanken zu lesen. Es war offensichtlich, dass er frustriert darüber war, aber er versuchte dies nicht durch seine Stimme durchscheinen zu lassen. Womöglich merkte er, dass mir die Situation zusetzte, und er wollte es mir nicht noch zusätzlich erschweren, indem er mir eine Ansage machte, mit der ich gerade nicht umgehen konnte.

„Denkst du nicht, dass ich es dir sagen würde, wenn ich es könnte?", stellte ich die Gegenfrage. Meine Stimme brach am Ende des Satzes ungewollt, als ich versuchte, den sich in mir anbahnenden Schmerz hinunterzuschlucken.

„Nein, das denke ich nicht", entgegnete er überzeugt und schüttelte dabei kurz seinen Kopf. Der Ton in seiner Stimme war jetzt kühl.

Wie bitte? Wollte er mich gerade verarschen? Dachte er etwa, mir machte das alles Spaß? Ich machte gerne eine Achterbahnfahrt der Gefühle durch? Wäre ich in der Lage, würde ich liebend gerne ein paar davon loswerden, indem ich sie ihm ins Gesicht klatschte. Mein Gesichtsausdruck musste ihm deutlich gezeigt haben, wie entsetzt und verwirrt zugleich ich von seiner Aussage war.

„Würdest du?", fragte er überrascht und zog leicht eine seiner Augenbrauen in die Höhe, ohne seinen Blick von meinem zu lösen. 

„Ja", antwortete ich sofort. Meine Worte kamen wie aus der Pistole geschossen.

„Nein, würdest du nicht, und das wissen wir beide. Als du zu mir gekommen bist, hast du dich bewusst dagegen entschieden, mit mir zu reden, warum auch immer. Genau wie bei allem anderen auch, was dein Leben betrifft. Du sagst mir, dass ich Menschen auf Abstand halte und du nicht weißt, was in meinem Kopf vor sich geht, aber was ist mit dir?", gab er jetzt mit ernster Stimme wieder, während er mir weiterhin ununterbrochen ins Gesicht sah. Nun war ihm deutlich anzumerken, dass er etwas aufgebracht war.

„Hältst du mir gerade etwa vor, dass du nichts über mich weißt?", stellte ich verwirrt die Gegenfrage, nachdem ich einen kurzen Augenblick über seine Worte nachgedacht hatte. Ja, das tat er ganz offensichtlich. Und anscheinend störte ihn diese Tatsache sehr, sonst hätte er sie nicht ausgesprochen..

„Du weißt mehr über mich als ich über dich, June. Und das trotz deiner Bedingung", erwiderte er. Ich konnte es nicht fassen, dass es ihn anscheinend wirklich störte, dass er nichts über mich wusste. Aber warum? Er hatte mir nie das Gefühl gegeben, dass er gerne etwas über mich oder mein Leben gewusst hätte. Außer ein einziges Mal an dem Abend, an dem wir die Sache zwischen uns versucht hatten zu beenden und darüber geredet hatten, dass ich aus Atlanta kam.

„Vielleicht wäre es anders, wenn du jemals gefragt hättest", antwortete ich ehrlich, nachdem ein kurzer Moment Stille zwischen uns geherrscht hatte. Ich wusste nicht, ob ich ihm von mir oder meiner Vergangenheit erzählt hätte, wenn er danach gefragt hätte. Wahrscheinlich hätte ich zu viel Angst davor gehabt, dass er mir auf einer anderen Ebene näher kam und hätte dies abgeblockt. Ich war mir ziemlich sicher, dass er sich das denken konnte und es deshalb nie versucht hatte, was ich, wenn ich so darüber nachdachte, sehr schätzte. Er hatte meine Bedingungen von Beginn an respektiert.

Ein eisiger Schauer durchzog mich blitzartig, so dass ich plötzlich wieder unwillkürlich zu zittern begann. Sofort verschränkte ich meine nassen Arme schützend vor meinem Oberkörper.

Aufgrund dieser Bewegung löste Sawyer seine Aufmerksamkeit von meinem Gesicht und ließ seine Augen für einen Moment an mir herabwandern. „Du bist komplett nass und wirst dir hier draußen den Tod holen", stellte er fest, bevor seine Augen zurück zu meinen fanden. „Entweder du bewegst jetzt deine Beine und steigst von alleine in mein Auto oder ich bringe dich dazu, okay?", fügte er bestimmt hinzu, während er erneut ernst zwischen meinen Augen hin und her sah..

Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt