28. Kapitel

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Sawyer {5 Jahre früher}

Ich hatte mir immer vorgestellt, wie es sich anfühlen würde, der Besitzer einer eigenen Bar zu sein. In fast jeder Sekunde meines Teenager- und Erwachsenenlebens hatte ich Bilder dazu im Kopf. Die Realität allerdings übertraf alles, was ich mir jemals in meinem Kopf ausgemalt hatte. Im positiven sowie im negativen Sinne.

Die ersten Monate waren die härtesten, die ich jemals durchleben musste. So hart, dass ich täglich darüber nachdachte, ob ich wirklich das Zeug und Durchhaltevermögen dazu hatte, eine Bar in London zu betreiben. Angefangen hatte es bereits bei der Suche nach Mitarbeitern. Zu Beginn schien es beinahe unmöglich, Leute zu finden, denen ich zutraute, die Ansprüche, die ich an ihre Arbeit hatte, zu erfüllen.

Blake versuchte mir Starthilfe zu geben und schmiss mich dafür ins kalte Wasser. Er hatte unzählige Bekanntschaften, denen er von der Eröffnung meiner Bar erzählte, was gleich vom ersten Abend an für eine volle Bar sorgte. Die Kasse klingelte, und ich hatte die Möglichkeit, mein Können unter Beweis zu stellen, was ich tat. Es dauerte einige Wochen, bis ich mich an den Stress gewöhnte, der solch eine gut besuchte Bar mit sich brachte. Nach einigen Wochen allerdings war ich routiniert und hatte Leute eingestellt und eingearbeitet, die nach meinen Vorstellungen arbeiteten.

Von diesem Moment an begann die Zeit, die ich niemals wieder in meinem Leben missen wollte. Nach den ersten Wochen kaufte ich mir ein eigenes Auto. Nach den ersten Monaten eine Wohnung. Ich lernte viele neue Menschen kennen und machte erstmals die Erfahrung, dass ich abends nie wieder ohne weibliche Begleitung nach Hause ging. Das Beste an all dem war aber, dass ich jederzeit hinter der Bar stehen konnte, um genau das zu tun, was ich liebte.


-


Heute war Freitag. Die Bar hatte seit ungefähr einer Stunde geöffnet, und der Betrieb war noch recht ruhig. Einige Tische waren mit kleinen Gruppen von Menschen belegt, aber die meisten Gäste standen und saßen in fast regelmäßigen Abständen an der Bartheke, wo sie sich angeregt unterhielten. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich nach einer Weile, wie sich am Rand der Bar, etwas abseits, eine junge Frau setzte, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war nichts Neues mehr für mich, dass viele wahnsinnig schöne Frauen in meine Bar kamen. Ich vermutete, dass es an der Gegend lag, in der sie sich befand. Eine Gegend, in der die Reichen und Schönen wohnten und ausgingen. Was allerdings neu für mich war: Ich konnte meine Augen beinahe nicht von ihr lassen. Es faszinierte mich, wie sie dort alleine saß und nicht bemerkte, dass fast alle Blicke auf ihr lagen. Hochkonzentriert blickte sie in die Karte.

„Du siehst aus, als hättest du Schwierigkeiten, dich zu entscheiden", sagte ich, als ich nach einigen Minuten zu ihr rüberging und mich mit meinen Armen am Tresen abstützte. Meinen Blick ließ ich für einen kurzen Moment unauffällig an ihr herabwandern. Sie trug ein eng anliegendes, dunkelgrünes Kleid, das ihre schlanke Figur betonte.

„Tu ich das?" fragte sie mit sanfter Stimme und blickte nun zu mir auf. Auf ihre vollen Lippen legte sich jetzt ein leichtes Lächeln.

„Etwas", entgegnete ich. Ich hatte selten so eine wunderschöne Frau gesehen. Sie wirkte surreal. Ihre langen, braunen Locken fielen auf der einen Seite über ihre Schulter nach vorne. Es fühlte sich wie ein Ding der Unmöglichkeit an, meinen Blick wieder von ihren großen, braunen Bambi-Augen abzuwenden.

„Das täuscht. Ich weiß immer ganz genau, was ich will", antwortete sie und klappte die Karte wieder zu, um sie anschließend zurück auf den Tresen zu legen. „Habt ihr Cointreau und trockenen Wermut?"

„Du möchtest einen Joy Division?" fragte ich, ohne meinen Blick von ihr abzuwenden. Es amüsierte mich, als ich sah, wie sich etwas in ihren Augen änderte, als diese Worte meinen Mund verlassen hatten.

„Du kennst den?", stellte sie als Gegenfrage, was mir meine Frage bestätigte.

„Offensichtlich", gab ich mit einem kurzen Nicken wieder. Als ich anfing, in der Gastronomie zu arbeiten, fiel mir dieses 'Talent' direkt auf. Ich konnte mir jeden Drink mit dem Namen und den einzelnen dazugehörigen Zutaten merken, wenn ich ihn nur ein einziges Mal zubereitet hatte. Es war fast wie ein Pokerspiel, den Drink zu erraten, wenn man mir nach und nach die Zutaten nannte. Bei manchen dauerte es logischerweise länger, darauf zu kommen, welcher gemeint war, denn bestimmte Zutaten kamen besonders häufig in Drinks vor. Beim Joy Division war es aber einfach. Dies war der einzige geläufige Drink, der Cointreau und trockenen Wermut beinhaltete.

„Er steht nicht in der Karte", stellte sie fest und deutete für einen kurzen Moment mit einer Kopfbewegung in die Richtung der Karte, die vor ihr lag.

„Ich weiß. Ich erlaube mir, den Drink den Gästen vorzubehalten, die ihn persönlich anfragen", entgegnete ich. Es gab einige Drinks, deren Besonderheit ich in Ehren halten wollte, indem ich sie nicht auf die Karte schrieb. Ich wollte nicht, dass sie Mainstream wurden und dadurch ihre Besonderheit verloren. Der Joy Division mit seinem herben, aber dennoch fruchtigen Geschmack war einer davon.

„Wow, so besonders habe ich mich ja noch nie gefühlt", sagte sie spielerisch. Auf ihre Lippen schlich sich jetzt erneut ein charmantes Lächeln.

„Schwer zu glauben", erwiderte ich ehrlich. Wenn ich sie nach ihrem Aussehen beurteilte, und nur das konnte ich, würde ich behaupten, dass ihr alles und jeder zu Füßen lag. Sie sagte selbst, sie wisse immer ganz genau, was sie wolle. Mit Sicherheit war sie es gewohnt, das auch zu bekommen. Es schien mir nicht realistisch, dass sie sich nicht besonders fühlte, wenn es Fakt war, dass allein ihre Optik sie besonders machte.

Nachdem ich das gesagt hatte, wirkte es so, als würde das Lächeln, das noch zuvor auf ihren Lippen lag, langsam verschwinden. Dann senkte sie ihren Blick. In genau diesem Moment, als sollte es meine Annahme untermauern, trat ein Kerl neben sie an die Bar. Während er sie ansprach, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn.

Als ich das bemerkte, machte ich einige Schritte zurück und lief wieder in die Mitte des Tresens, wo ich nach und nach die Zutaten des Joy Division in den Shaker gab. Nachdem ich den Drink in ein Glas gegossen und mit einem Stückchen Orangenschale garniert hatte, griff ich nach einer Serviette, einem kleinen Glas, das ich mit stillem Wasser befüllte, und stellte beides vor ihr ab, was sie, so sehr in ihr Gespräch vertieft, nicht zu bemerken schien.

„War er so, wie du ihn dir vorgestellt hast?", fragte ich, als ich noch etwas stilles Wasser in das kleine Glas nachschenkte, das sie mit ihrer Hand umschlossen hielt. Sie saß mittlerweile wieder alleine und wirkte nachdenklich. Meine Frage schien sie plötzlich aus ihren Gedanken gerissen zu haben. Im Laufe der letzten Stunde hatte ich hin und wieder zu ihr rübergesehen. Der erste Kerl war nach einigen Minuten verschwunden. Daraufhin folgten ein paar weitere, aber keiner blieb.

„Er war besser. Danke", entgegnete sie und sah wieder zu mir auf, um daraufhin erneut zu lächeln. Es war faszinierend, wie ihre Augen zeitgleich zu strahlen begannen, wenn sie das tat.

„Möchtest du noch einen?", fragte ich erneut, als ich für einen Moment in ihr leeres Glas hineinblickte. Am Rand des Glases war ein leichter Abdruck ihres Lippenstiftes zu erkennen.

„Nein, vielen Dank", erwiderte sie und griff nun in ihrer Tasche, die unter dem Tresen hing. Daraus zog sie einen 20er und legte ihn vor uns auf die hölzerne Theke, neben das leere Glas ihres Drinks. „Stimmt so", fügte sie hinzu und erhob sich gemächlich von dem Barhocker, bevor sie sich auf den Boden stellte.

Etwas verwirrt betrachtete ich das Geld vor mir.

„Überrascht, dass ich ihn selbst zahle?", fragte sie, sodass ich meinen Blick wieder in ihr Gesicht richtete. Fast jeden Abend konnte ich solche Szenen beobachten. Junge, schöne Frauen kamen alleine hierher. Innerhalb kürzester Zeit wurden sie von Kerlen umschwärmt, die sie in Gespräche verwickelten, sie küssten, ihre Drinks zahlten und mit denen sie nach einigen Stunden die Bar verließen. „Ich zahle meine Drinks fast immer selbst. Schönen Abend noch", ergänzte sie, ohne auf eine Antwort von mir zu warten, griff nach ihrer Tasche und verließ meine Bar.

Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt