19. Kapitel

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„Ich dachte, du wärst der Typ vom Lieferservice" sagte ich etwas verwirrt und enttäuscht zugleich, als ich Grace vor meiner Haustür stehen sah. Seit ich vor über einer Wochen wieder hier in London war, hatte ich sie nicht gesehen. Ich hatte niemanden gesehen außer Theo, den ich zwangsläufig sehen musste, weil ich für ihn arbeitete. Auch Sawyer hatte ich seit dem letzten Mal nicht mehr gesehen. Ich merkte, dass es mir gut tat alleine zu sein. Alleine, still und heimlich vor mich hin zu leiden, ohne dass es jemand mitbekam.

„Nein, ich bin deine Freundin, die dachte, dass du vielleicht tot wärst, weil du kein Lebenszeichen von dir gibst." entgegnete sie jetzt sarkastisch. Sarkasmus passte nicht zu ihr. Dafür war sie in der Regel zu nett. Nachdem man mir mitteilte, dass meine Mutter gestorben war, war ich nicht mehr auf ihre Nachricht eingegangen. Seit fast 4 Wochen hatten wir uns deshalb weder gesehen, noch gesprochen.

„Offensichtlich bin ich es nicht. Willst du hier jetzt eine Szene machen, weil ich mich nicht gemeldet habe?" antwortete ich nun, nachdem ich für einen Moment stumm in ihr etwas verärgert wirkendes Gesicht blickte.

„Nein, natürlich nicht. Ich bin hier, weil ich dich sehen will und mir Sorgen mache." erwiderte Grace jetzt und sah beim Sprechen für einen kurzen Moment an mir herab. Ich trug ein schwarzes T-Shirt und eine graue Jogginghose. Für die wohlhabende Tochter von Juristen wahrscheinlich schon Grund genug, um sich um jemanden Sorgen zu machen.

„Das musst du nicht. Es geht mir gut." gab ich wieder.

„Warum ziehst du dich dann so sehr zurück? Habe ich irgendwas gemacht?" fragte Grace erneut mit sanfter Stimme.

„Nein, du hast nichts gemacht. Womöglich überrascht es dich, aber es geht im Leben von anderen nicht immer um dich, Grace." entgegnete ich. Eine Angewohnheit von mir war, dass ich manchmal fies zu anderen wurde, wenn man mich in eine Situation brachte, in der ich das Gefühlt hatte, keine andere Möglichkeit zu haben. Ich wusste, dass sie hier war um mit mir über meine Reise in die USA zu sprechen. Dazu war ich aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht bereit. Ich befürchtete, dass sie es nicht akzeptieren würde, wenn ich ihr dies auf eine nette Art und Weise zu verstehen geben würde.

„Alles klar, dann melde dich wenn das hier, was auch immer es ist, vorbei ist und du dich in der Lage fühlst, normal mir mit zu reden." sagte sie mit ruhiger Stimme und wendete sich von mir ab, um dann mit langsamen Schritten die etwas knarrende Holztreppe meines Wohnhauses hinunter zu gehen..

-

„June." vernahm ich Theos Stimme plötzlich hinter mir, weshalb ich etwas zusammenzuckte. Augenblicklich löste ich meinen Blick von dem Bildschirm des Laptops vor mir und sah ihn stattdessen an. „Hast du mich nicht gehört?" Er stand im Türrahmen des kleinen Arbeitszimmers und sah in meine Richtung. In seiner Hand hielt er einen Becher mit Kaffee, aus dem er einen Schluck trank.

„Nein, Sorry." entgegnete ich kopfschüttelnd und richtet meinen Blick zurück auf den Schreibtisch. Ich war so sehr in Gedanken, dass ich anscheinend nicht gehört hatte, wie er in den Laden gekommen war. Neuerdings fiel es mir extrem schwer, konzentriert zu bleiben. Ich begann ständig für einige Minuten ungewollt vor mich hin zu träumen, weshalb ich ewig für meine Aufgaben brauchte. Außerdem sorgte der Mangel an Konzentration dafür, dass ich manche Dinge vergas und das sich immer öfter Fehler einschlichen. Natürlich blieben diese von ihm nicht unbemerkt.

„Was ist in letzter Zeit los mit dir?" fragte er und trat jetzt ein, um sich einen Moment später wie gewöhnlich auf seinen Sessel zu setzen. Ich spürte deutlich seinen Blick in meinem Nacken, was es mir noch schwerer machte, mich richtig auf meine Arbeit zu konzentrieren.

„Nichts, warum?" stellte ich die Gegenfrage und drehte mich nun mit meinem Stuhl zu ihm um, um ihn ebenfalls anzusehen. Ich versuchte so gelassen wie möglich zu wirken, obwohl ich genau wusste, warum er mich das fragte.

Für eine Weile sah er mich stumm an, als würde er über seine nächsten Worte nachdenken. „Weil ich dir ansehe, dass etwas los ist. Seit du aus deinem Urlaub wiedergekommen bist, der ursprünglich 5 Tage dauern sollte, aber dann doch über 2 Wochen war." antwortete er und nahm wieder einen Schluck seines Kaffees.

„Ich weiß. Passiert nicht nochmal." entgegnete ich und drehte mich jetzt zurück zum Schreibtisch, um meine Aufmerksamkeit wieder auf die Dinge vor mir zu richten.

„Komm schon, June. Das war kein Vorwurf."

„Sondern?" fragte ich flüchtig, während ich nebenher ein paar Dinge in eine Liste eintrug.

„Ich will damit nur sagen, dass ich sehe wenn etwas ist. Und das du drüber reden kannst, wenn du möchtest." sagte er. Zuerst die Sache mit Grace gestern Abend und jetzt fing auch noch Theo damit an.

„Möchte ich nicht. Aber danke." erwiderte ich erneut. Es war ein freundliches Angebot seinerseits, trotzdem würde ich nichts von den Dingen mit ihm teilen, die mich bedrückten. Es ging ihn ganz einfach nichts an und wie ich einst zu Sawyer sagte, ich mischte Arbeit und privates tatsächlich nicht miteinander.

„Warum überrascht mich das jetzt nicht." schmunzelte er und erhob sich hörbar aus seinem Sessel. „Vielleicht probierst du es mal mit zudröhnen. Kann manchmal Wunder bewirken." seine leeren Becher warf er nun in den Mülleimer schräg neben dem Schreibtisch, so dass er wieder in meinem Blickwinkel stand.

„Nichts lieber als das." antwortete ich knapp und sah wieder zu ihm auf. Als Aiden und ich jünger waren, rauchten wir hin und wieder mal etwas Gras. Als wir älter wurden und zu studieren begannen, hörten wir damit auf. Chemische Drogen wie LSD, MDMA und Kokain konsumierte ich in der Vergangenheit nur auf Festivals oder Partys. Auch wenn das runterkommen am nächsten Tag jedes mal die Hölle war, liebte ich es. Ich liebte es high zu sein. Egal von was. Genau aus diesem Grund musste ich aufpassen. Ich wusste, dass ich zu einer starken Abhängigkeit tendierte, denn ich genoss jeden einzelnen Trip und Rausch. Ich liebte, wie die Drogen mich von meinem Leben ablenkten, auch wenn es nur vorübergehend war. Hier in London hatte ich aber bisher noch keine Drogen genommen.

Mein Blick wanderte nun zu seiner Hand und folgte dieser, als sie in seine hintere Hosentasche fuhr. Eine Sekunde später zog er etwas heraus und legte es neben mich auf den Schreibtisch. Eine kleines, durchsichtiges Tütchen indem sich 2 Türkis-farbene Pillen mit Bitcoin Zeichen darauf, befanden.

„Anscheinend bist du doch nicht ganz so unschuldig wie du aussiehst." stellte ich fest und sah von den Drogen wieder zu ihm auf. Es überraschte mich, dass er sowas hatte. Theo sah aus, wie der vorbildliche Schwiegersohn von nebenan.

„Weißt du wie du damit umgehst?" fragte er und deutete mit einem kurzen Kopfnicken auf die Tabletten. Vorfreude machte sich in mir breit. Ja, ich wusste genau wie ich mit Ecstasy umgehen musste und was mich erwartete, wenn ich das nehmen würde. Für einige Stunden hätte ich eine gehobene Stimmung und Glücksgefühle. Zwei Dinge, die ich schon seit längerem nicht mehr verspürt hatte.

Ich nickte. „Wie viel bekommst du dafür?" ich griff nach dem Tütchen, faltete es einmal und schob es dann ebenfalls in die hintere Hosentasche meiner schwarzen Jeans.

„Nichts." antwortete er knapp. Auf seinem Gesicht lag für einen kurzen Moment ein kleines Lächeln. Dann lief er wieder an mir vorbei und raus aus dem Büro, in dem ich alleine zurückblieb...

Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt