51. Kapitel

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Die Situation, die sich gerade anbahnte, machte mir Angst - so große Angst, dass mein Herz schmerzhaft stark gegen meine Brust hämmerte, und ich befürchtete, daran zu sterben. Die andere Befürchtung, die ich hatte - realistischer als das Sterben - war, dass Sawyer mein Herzklopfen bemerkte. Es würde mich verraten und ihm zeigen, dass seine Worte und seine Anwesenheit diese Reaktion bei mir auslösten, wodurch jede Lüge meinerseits sinnlos wäre. Mir kam der Gedanke, dass es nun vielleicht einfach an der Zeit war, ehrlich zu ihm zu sein. Eine andere Möglichkeit hatte ich nämlich nicht...

Der Blick, mit dem er mich in den gefühlt längsten Sekunden meines Lebens angesehen hatte, schüchterte mich so sehr ein, dass ich schlucken musste. Ich wendete meinen Blick von seinen durchbohrenden, dunklen Augen ab und machte einen Schritt zur Seite.

„Du solltest besser reinkommen, bevor meine Nachbarn die Polizei rufen", sagte ich. Dabei merkte ich, wie sehr meine Beine zitterten. Mein ganzer Körper bebte förmlich. Als er meiner Anweisung nachkam und an mir vorbeilief, vernahm ich den bekannten Geruch, der von ihm ausging und zusammen mit ihm in meine Wohnung drang, als er fast hineinstolperte. Der Typ war voller als voll, was mich mit einem Gefühl von Unbehagen erfüllte. Was waren seine Emotionen bei der ganzen Sache, dass er sich dazu entschieden hatte, sich so dermaßen die Kante zu geben?

Nachdem ich die Tür hinter ihm ins Schloss gedrückt hatte, drehte ich mich wieder zu ihm um und lehnte mich, mit einem bewussten Abstand zu ihm, neben die geschlossene Wohnungstür. Meine Arme hielt ich defensiv vor meinen Körper, als ich meinen Blick wieder zu ihm aufrichtete. Stumm sah er mich an und schien darauf zu warten, dass ich etwas sagte.

„Ich weiß nicht genau, was du jetzt von mir hören willst", gestand ich nach einer Weile mit dünner Stimme, um die bedrückende Stille zwischen uns zu durchbrechen. Was genau wollte er hören? Wollte er meine Gründe erfahren, warum ich es für mich behalten hatte?

„Das, was ich auch hören wollte, als ich dich im Aufzug gefragt habe.", entgegnete er mit rauchiger Stimme. In seinen Worten schwang jetzt eine gewisse Ungeduld mit.

„Im Aufzug?", stellte ich nun etwas verwirrt die Gegenfrage an ihn zurück.

„Was wolltest du wirklich bei mir?", stellte er die Frage erneut und deutlicher. Ein riesiger Stein fiel mir vom Herzen, als ich für den Bruchteil einer Sekunde seinen Worten lauschte, darüber nachdachte und feststellte, dass er gar nicht von der Schwangerschaft sprach, wie ich es gedacht hatte. Ich hatte Glück, dass ich ihn nicht danach gefragt hatte, ob sein Bruder es ihm gesagt hatte.

Erleichtert von der Erkenntnis, dass Sawyer offensichtlich nicht gekommen war, um mich zur Rede zu stellen, atmete ich aus. Dann löste ich mich von der Wand, an der ich lehnte, und lief stumm, nur mit leicht schüttelndem Kopf, an ihm vorbei, um zurück in die Küche zu gehen. Ich spürte deutlich, wie sein Blick mir folgte.

„June", knurrte er ermahnend und nach einer Antwort fordernd. Dabei trat er nun ebenfalls näher an den Rand der Küche heran, wo er seine Arme rechts und links an den Seiten des Türrahmens abstützte. Ich konnte spüren, wie seine Augen mich weiterhin fokussierten und auf meinen Hintern wanderten, der durch mein hochrutschendes Shirt entblößt wurde, als ich stumm nach einem Glas griff und es daraufhin unter den Wasserhahn hielt, um es bis oben hin zu füllen. Hätte er mich nicht schon etliche Male nackt gesehen und seine Zunge in mir gehabt, wären mir seine Blicke wahrscheinlich unangenehm gewesen.

„Hier", sagte ich, als ich mit dem Glas in der Hand ein paar Schritte auf ihn zugegangen war und meine Augen darauf richtete, als ich es ihm demonstrativ reichte. Er hingegen nahm keinerlei Notiz von meiner Geste und musterte erneut mit ernster Miene mein Gesicht.

„Ich hasse es, wenn man mich zum Narren hält, also lass es", warnte er, ohne das Glas anzunehmen. Sein scharfer Kiefer spannte sich bei diesen Worten erneut an, was die Aussage bestätigte. Offensichtlich hasste er es.

„Wie schon gesagt, es hatte sich erledigt.", entgegnete ich ruhig und versuchte die Situation damit zu beschwichtigen in dem ich ihm auf seine Frage antwortete. Dabei stellte ich das Glas neben uns auf dem Küchentresen ab, als mir bewusst wurde, dass er es nicht trinken würde. Ich wollte ihn in seinem jetzigen Zustand nicht verärgern. 

„Ich glaube dir nicht", sagte er sofort und schüttelte dabei langsam seinen Kopf. Natürlich glaubte er mir nicht...

„Das ist nicht mein Problem", gab ich jetzt ernst und mit kühlem Ton wieder, während ich kurz mit den Schultern zuckte. Meine Augen löste ich nicht eine Sekunde von seinen. Er sollte nicht merken, dass er mich mit seiner Anwesenheit unter Druck setzte.

Nachdem er für eine gefühlte Ewigkeit nachdenklich zwischen meinen Augen hin und her gesehen hatte, formten sich seine Lippen zu einem leichten Lächeln. Es war kein freundliches Lächeln, sondern ein eher verächtliches und überlegenes Lächeln. „Würden wir nicht schon eine ganze Weile miteinander ficken, würde ich dir wahrscheinlich abkaufen, dass du wirklich so emotionslos bist wie du gerade versuchst rüberzukommen."

„Ich versuche nicht emotionslos rüberzukommen, sondern gegen den Drang anzukämpfen, dir eine zu verpassen", sagte ich jetzt ehrlich. Ich merkte, wie langsam Wut in mir aufkochte wegen all den Dingen die zusammenkamen. Dass ich das mit ihm begonnen hatte obwohl er von Beginn an ein Arschloch war. Dass ich mich in ihn verliebt hatte. Dass er hier her gekommen war und meine Grenze nicht respektierte. Und dass er nicht locker ließ..

Nun legte sich ein noch deutlicheres Schmunzeln auf seine Lippen, bevor er erneut das Wort ergriff. „Sicher, dass du nicht lieber noch etwas weinen möchtest, wie du es offensichtlich zuvor getan hast, bevor ich gekommen bin?", fragte er und deutete mit seinem Zeigefinger für einen kurzen Moment zwischen meinen beiden Augen hin und her. Also hatte er es mir doch angesehen.

„I-Ich habe schon halb geschlafen, bevor du gekommen bist. Und das werde ich auch jetzt wieder tun. Ich rufe dir ein Taxi", antwortete ich von meiner Lüge stockend, um seinen Besuch hier nun zu beenden. Dabei löste ich meinen Blick von seinen Augen und machte einen Schritt auf ihn zu. Mein Blick wanderte an ihm vorbei, um ihm zu signalisieren, dass ich vorbeigehen wollte, um mein Telefon aus dem Wohnzimmer zu holen, wo ich es eben zurückgelassen hatte.

Anstatt dem allerdings nachzukommen und mir Platz zu machen, tat er das komplette Gegenteil und lehnte sich mit dem gesamten Oberkörper in den Türrahmen, um mir den Weg zu versperren. Zeitgleich hob er seine rechte Hand und fuhr damit zu meinem Gesicht um sie an mein Kinn und den Kiefer zu legen. Erschrocken von der plötzlichen und unerwarteten Berührung, fanden meine Augen wieder zu seinen zurück. Sein Griff war fest, weshalb ich instinktiv mit meiner Hand an seine fuhr und sie umgriff.

„Bei deinen roten Augen hättest du lieber sagen sollen, dass du einen durchgezogen hast", blaffte er und pendelte erneut zwischen ihnen hin und her. Dann, einen Moment später, richtete er seine Aufmerksamkeit auf meine Lippen, die ich nun, von der Situation angespannt, leicht zusammenpresste. Ich spürte schon wieder, wie mir mein Herz bis zum Hals schlug. So sehr, dass es mich nicht wundern würde, wenn er meinen Puls durch seine Hand an meinem Kiefer spüren würde.

Für einen kurzen Moment ließ ich es zu, dass er meine Lippen betrachtete. Als ich allerdings das Gefühl hatte, dass er gedanklich abdriftete, öffnete ich meinen Mund, um ihn ins Hier und Jetzt zurückzuholen. „Sawyer", ermahnte ich. Ich würde es nicht zulassen, dass er mich küsste. „Du tust mir weh", fügte ich hinzu, als er seine Augen von ihnen löste und zurück in meine blickte.

„Es wäre für uns beide besser gewesen, wenn ich das von Anfang an getan hätte", sagte er kühl und lockerte dabei den festen Griff um mein Gesicht, bis er es schließlich ganz losließ. Die Art, wie er das sagte, jagte mir eine gewaltige Gänsehaut über meinen gesamten Körper, weshalb ich erneut etwas mehr Abstand zwischen uns brachte. Daraufhin machte er ebenfalls einen Schritt zurück, um aus dem Türrahmen der Küche zu treten und zurück in den Flur zu gehen, wo er, noch immer etwas vom Alkohol taumelnd, auf die Tür zuging, sie öffnete und dann mit einem dumpfen Knall ins Schloss zog.

Für einen Augenblick verharrte ich genau an dem Fleck, wo ich stand, und lauschte meinem schweren Atem, wie er durch die Wände meiner Küche hallte. Wollte er damit das sagen, was ich vermutete, dass er sagen wollte? Spielte er darauf an, dass er sich denken konnte, dass ich Gefühle für ihn hatte, was die Situation für ihn genauso beschissen machte wie für mich? So beschissen, dass er sich wünschte, dass er ein noch unausstehlicheres Arschloch gewesen wäre, so dass es niemals zu all dem zwischen uns gekommen wäre?

Between Tears and Whisky SourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt