Kapitel 4

1.1K 54 0
                                    

(Maggy)

Meine erste Arbeitswoche vergeht wie im Flug. Die Aufgaben, die ich von Lio bekomme, werden immer interessanter. Auch wenn ich das von ihm nicht gedacht hätte, erkennt er meine Fortschritte und überlegt sich neue Herausforderungen für mich. Überraschenderweise arbeite ich gerade ausschließlich ihm zu. Die anderen Mitarbeiter, mit denen ich in dem Großraumbüro sitze, sind alle super nett zu mir und helfen mir, wo sie können. Einige von ihnen sind bereits viele Jahre dort angestellt. 

"Als damals die Frau vom Chef verstorben ist, mussten wir alle um unsere Arbeitsplätze bangen", erzählt Peter. "Wollte Mr. Ramirez verkaufen?", frage ich neugierig, doch er schüttelt den Kopf. "Nein, von wollen kann nicht die Rede sein. Ihm ging es damals so schlecht, dass er das Geschäft für Wochen, wenn nicht sogar für Monate vernachlässigt hat. Er hat gerade noch so die Kurve bekommen."  Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm diese Zeit damals gewesen sein musste. Ein Mann wie Ben Ramirez, am Boden zerstört, weil seine Frau verstorben ist und sein Leben aus den Fugen gerät. Die Zwillinge müssten damals 17 Jahre alt gewesen sein. Noch viel zu jung, um so einen Verlust zu erleben. 

"David hat vor zwei Jahren seine Jugendliebe Anna geheiratet. Sie hat die Familie damals aufgefangen, wenn du mich fragst. Sie hat sich um sie gekümmert. Durch die Hochzeit wurde die Familie wieder stärker, wenn erstmal ein Enkelkind auf dem Weg ist, wird sich der Boss sicher freuen" Dann war David also mit seiner Frau Anna im Urlaub. "Und Lio?" Peter verzieht leicht sein Gesicht und beugt sich weiter zu mir. "Dem ging es gar nicht gut. Viel Alkohol, viel Party, viele verschiedene Frauen. Er hat versucht den Verlust so zu kompensieren. Das klappt ja aber nie..." So etwas hatte ich bereits im Internet gelesen. David fand sein Glück in seiner Frau, die ihm in der schwierigsten Zeit den nötigen Halt gab, während Lio sich in Exzessen verlor. 

Bevor ich Feierabend machen konnte, bat mich Clara, die ihren Tisch direkt neben meinem hatte, eine Akte für sie zu holen. Sie würde heute leider Überstunden machen müssen, da sie an einem Projekt arbeitete, das unbedingt morgen um 10 Uhr auf dem Tisch von Ben Ramirez liegen sollte. Also entschied ich mich dafür, ihr so gut ich konnte zu helfen und ging zu dem Aktenarchiv auf der anderen Seite der Etage. 

Ich versuchte mir einen Überblick über das Aktensystem zu verschaffen, doch ich konnte kein System erkennen. Also laß ich jede Überschrift auf den Kartons ganz genau. Ich entdeckte einen Karton aus der Zeit, in der Maria Ramirez verstorben war. Wenige Monate nach ihrem Tod wurden viele neue Verträge aufgesetzt. Ich sah mich um, niemand war auch nur in der Nähe des Aktenarchivs. Vorsichtig öffnete ich den Deckel und betrachtete die Namen der Vertragsparteien. 

"Was machst du da?" Eine dunkle Stimme ertönt fauchend hinter mir. Lio schließt die Tür und kommt mit aggressiven Schritten geradewegs auf mich zu. "Ich...ich... also ich soll für Clara", doch weiter komme ich nicht. "Praktikanten haben hier drin nichts zu suchen. Erst recht nicht, wenn sie ihre Nase überall reinstecken." Seine Augen leuchten noch viel mehr als sonst, als könnte er daraus kleine Giftpfeile auf mich abschießen. "Tut mir Leid", flüstere ich mit zitternder Stimme. "Raus", sagt er in einem leisen, beängstigenden Ton. Ich laufe so schnell wie ich kann an ihm vorbei, stoße mich noch an einem der Kartons, die auf dem Boden stehen und reiße die Tür auf. 

Bevor Clara, die mich verdutzt ansieht, ein Wort sagen kann, schnappe ich mir meine Tasche, meinen Mantel und laufe zum Aufzug. Mir bleibt nichts anderes übrig, als den Aufzug zu nehmen, der aus Glas besteht, denn der andere befindet sich in der Nähe des Aktenarchivs - und da werde ich sicher nicht noch einmal hingehen. 

Als ich in den Bus einsteige, rast mein Herz immer noch. 

Im Wohnheim angekommen, öffne ich das verlassene Zimmer. Jona wird vermutlich schon unterwegs sein. Es gab keinen Freitagabend, an dem sie nicht feiern ging, selbst nach unserer anstrengenden ersten Arbeitswoche. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und starre an die Decke. Vor mir erscheinen die grünen Augen von Lio, die mich so böse ansahen, dass es mir eiskalt den Rücken runterlief. Hätte nicht er auf Geschäftsreise sein können und David im Büro? 

Nach einer warmen Dusche sitze ich mit einer Pizza auf meinem Bett. Über meinen Laptop läuft die Serie Inventing Anna und ich werde langsam müde. Jona rief mich vor einer Stunde an, ob ich nicht zu einer Party in irgendeinem Verbindungshaus mitkommen wollte. Normalerweise begleitete ich sie fast immer auf solche Partys, aber nach dem heutigen Tag war mir so gar nicht danach. Außerdem musste ich morgen den ganzen Tag in dem Café nahe der Uni arbeiten und mich abends um meine anderen Fächer kümmern. Ich hatte keine Ahnung, wie Jona das alles unter einen Hut bekommt. 

Auch wenn ich am Montag wieder zur Arbeit gehen muss, bin ich froh, dass ich zwei Tage Ruhe vor den giftgrünen Augen hatte. Vielleicht wäre bis dahin etwas Gras über die Sache gewachsen. Ich würde mich einfach nochmal entschuldigen und danach so tun, als wüsste ich gar nicht mehr, worum es geht - auch wenn ich vermutlich die nächsten drei Jahre darüber nachdenken werde. 

Lio - Trust my Destiny / AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt