Kapitel 66

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(Maggy)

Ich halte die blaue Bluse in den Händen und betrachte sie wehmütig. 

Als ich die Wäsche in den Kleiderschrank sortiert habe, fiel mir eine Bluse in die Hände, die ich mir von Anna geliehen hatte. Bei dem Anblick werde ich sentimental und spüre, wie isoliert ich hier eigentlich bin. 

Sie fehlt mir schrecklich. 

Genauso wie meine Freunde, der Campus, einfach alles... 

Lio hat mir alles, was ich für das Semester brauche, besorgt und ich kann mittlerweile jeden Tag ein paar Stunden lernen, doch es ist nicht das selbe. Auch wenn ich ihm das niemals sagen würde, fühle ich mich wie im Gefängnis. 

Ich kann nicht einfach gehen, kann meine Freunde nicht sehen. Ich kann nicht einmal mein verdammtes Handy benutzen. 

Bevor mir die Tränen weiter in die Augen steigen, verlasse ich das Zimmer, um in das andere Gästezimmer zu gehen, in dem David und Anna einquartiert waren. 

Ich schließe die Tür hinter mir, sehe mich um und kann die Träne, die mir jetzt die Wange herunter kullert, nicht aufhalten. 

Wenn ich doch wenigstens mit ihr sprechen könnte. Sie ist die einzige, die meine Situation verstehen kann, doch es wäre zu gefährlich sie zu kontaktieren. 

Nur Lio und David sprechen einmal die Woche miteinander über ein Prepaid-Handy. 

In dem Kleiderschrank befinden sich nur noch ein paar Socken und ein Pullover von David. 

Vorsichtig hänge ich die Bluse auf einen der Kleiderbügel und gerade, als ich ihn wieder einhängen will, höre ich Schritte. 

Viele, schnelle Schritte. 

Irritiert ziehe ich die Augenbrauen zusammen, bleibe wie erstarrt stehen und lausche den unerwarteten Schritten. 

Sie entfernen sich ein wenig und mir kommt der Gedanke, dass sie zu unserem Zimmer führen. 

"Sie ist nicht hier", höre ich eine dunkle, unbekannte Stimme und mein Herz beginnt zu rasen. 

Irgendwas stimmt hier nicht. 

"Durchsucht das verdammte Haus", knurrt jemand und meine Augen flackern. 

"Fuck", flüstere ich, als mir bewusst wird, dass ich mich verstecken muss. "Fuck, fuck, fuck"

Mir bleibt nichts anderes übrig, als in den Kleiderschrank zu steigen. Ich drücke die Bluse fest an mich, ziehe eine meiner Haarklammern aus meiner Frisur und stecke sie durch den letzten offenen Spalt des Kleiderschrankes. 

Ich sperre mich selbst ein. 

Dann ist es stockdunkel und ich höre dumpfe Schritte im ganzen Haus. 

Ich schließe die Augen, zähle immer wieder von 1 bis 10 und versuche dabei meine Atmung zu kontrollieren. 

Wenn das wirklich Männer sind, die uns schaden wollen, dann wird Lio sicher bald hier sein. Dann wird alles wieder gut. Sie werden mich nicht finden. 

Mit meiner eigenen Hand schnüre ich mir die Luft ab, als sich die Tür zu dem Zimmer ruckartig öffnet. 

Bitte nicht. bitte nicht. bitte bitte bitte. 

Ich höre, wie die Person den Raum betritt, auf und ab läuft und sich umzusehen scheint. 

Glücklicherweise ist dieser Raum nicht nur verlassen, sondern er sieht auch so aus. Das Bett ist vollständig abgezogen, es gibt kaum Dekoration und es riecht nach Putz- und Waschmitteln. 

"Hier ist auch nichts", ruft die Person frustriert und verlässt den Raum. 

Ich bleibe genau da, wo ich bin. Ich werde einfach hier bleiben, bis jemand zur Hilfe kommt. 

"Lasst mich los, ihr elenden..." Wieder schrecke ich auf. Ben flucht vor sich hin und ich kann hören, wie jemand auf ihn einschlägt. 

Mir wird so schlecht, dass ich drauf und dran bin mich zu übergeben. 

Innerlich bete ich, dass jemand, nur irgendjemand kommt und ihn und mich aus dieser Situation befreit. 

Heiße Tränen strömen mir übers Gesicht und ich kneife mich selbst, um das Schluchzen in meiner Kehle zu unterdrücken. 

"Wo ist sie?", brüllt jemand, doch Ben antwortet nicht. "Verflucht nochmal, wo ist die Schlampe?", wiederholt er und ich höre einen erneuten, dumpfen Schlag. 

Ich versuche nicht daran zu denken, was in der Eingangshalle passiert. Versuche auszublenden, was für Schmerzen sie ihm hinzufügen, doch ich weiß schon jetzt, dass es sich tief in mein Herz brennt. 

"Sie ist nicht hier", antwortet Ben nuschelnd. 

"Verarsch mich nicht", schreit ein anderer. "Sucht nochmal alles ab. Ich bin hergekommen, um meinen Spaß zu haben"

Ich presse meinen Kiefer fest zusammen. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken und ein kribbelndes Gefühl bleibt in meinem Kopf zurück. Mir wird schwindelig. 

Diese Männer sind nicht nur hier, um Ben wehzutun. Sie wollen Lio wehtun, in dem sie mich... 

Wieder betritt jemand das Gästezimmer und diesmal halte ich die Luft an. 

Ich kann nur hoffen, dass diese Person den Kleiderschrank auch nicht öffnen wird. 

Als mich ein Gefühl von Ohnmacht überkommt, stütze ich mich vorsichtig hinter mir ab. Ich spüre eine Welle in dem Schrankboden, die mich irritiert. Vorsichtig fahre ich mit dem Finger darüber, als mir klar wird, dass sich dort ein geheimes Fach befinden muss. 

Die Person verlässt den Raum, lässt die Tür jedoch offen. Jede meiner Bewegungen könnte von jemandem auf dem Flur vernommen werden und ich brauche einen Moment, um meine Atmung zurückzufinden. 

Vorsichtig umspiele ich den Deckel des Faches und versuche, es so leise wie möglich zu öffnen. 

Als ich hinein fasse, was in absoluter Dunkelheit mein Albtraum ist, spüre ich den kalten Lauf einer Waffe. 

Ich weiß nicht, was ich mir davon erhofft habe, jedoch versetzt sie mich nur noch mehr in Panik. 

Ich muss sie herausnehmen. Falls jemand den Schrank öffnet, dann könnte ich mich damit vielleicht wehren. 

Ich weiß nicht einmal, ob sie geladen ist. Auch bin ich mir unsicher, wie man sie entsichert und ob ich überhaupt mit so etwas umgehen kann. 

Hätte ich die Option, genauer darüber nachzudenken, würde ich vielleicht zu dem Entschluss kommen, dass ich mich damit nur selbst verletzten werde. Doch dann höre ich Ben erneut aufschreien. 

So makaber es ist, doch sein Schrei überdeckt die Geräuschkulisse aus dem Schrank, sodass ich die Waffe an mich nehmen und mich neu positionieren kann. 

Ich taste vorsichtig über sie. Ich glaube, sie ist geladen, denn sie ist ziemlich schwer. 

Adrenalin gesellt sich zu meiner Panik und mein einziger Gedanke ist, dass ich Ben helfen muss. 

Ich würde abdrücken, wenn mir jemand zu nahe kommt... oder? 

Ich weiß nicht, wie viel Zeit noch vergehen darf, bis uns jemand zur Hilfe kommt und die Geräusche, die von unten zu mir dringen, sind furchtbar. 

Bei dem nächsten lauten Schrei öffne ich mit einem leichten Knarren den Kleiderschrank. 

Lio - Trust my Destiny / AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt