Kapitel 73

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(Maggy)

Zwei Stunden haben wir geschlafen. Tief und fest, eng aneinander geschmiegt.

Keine furchtbaren Träume. Kein Zittern. Keine Tränen.

Als ich die Augen aufschlage, wird es draußen langsam dunkel. "Hey", murmelt Lio mit müder Stimme und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht.

"Hast du gut geschlafen?", fragt er. "Ich glaube, ich habe noch nie so gut geschlafen"

"Ich auch nicht", antwortet er und seine Lippen umspielt ein Lächeln, das ich schon lange nicht mehr bei ihm gesehen habe.

Ich fühle mich immer noch erschöpft, denn die vergangenen Tage lassen sich durch zwei Stunden tiefen Schlaf nicht vollkommen ausgleichen, aber das erste Mal seit langem spüre ich körperliche Energie.

"Die anderen werden in einer Stunde hier sein", verkündet er mit einem Blick auf sein Handy.

Wir schälen uns aus dem Bett und ich kann es kaum erwarten, später wieder in die weichen, warmen Laken zu fallen.

Lio steht plötzlich vor mir und als ich zu ihm hochsehe, schlägt mein Herz schneller. In seinem Blick liegt nichts als Liebe.

Instinktiv lege ich meine Hand in seinen Nacken, woraufhin er seine Hand an meine Taille legt. Ohne ein Wort zu sagen, kommunizieren wir über unsere Blicke. So nah waren wir uns seit Tagen nicht mehr und es fühlt sich so neu und trotzdem so vertraut an.

"Darf ich dich küssen?", fragt er und durchbricht damit die Stille.

Zuletzt war es mir einfach nicht möglich, ihm meine Zuneigung zu zeigen. Es war einfach alles zu viel. Jedes Mal, wenn ich versucht habe, etwas schönes zuzulassen, hallten die Schüsse oder die Stimmen der Männer durch meine Ohren.

Nachts lag ich wach und mein Kopf quälte mich mit Gedanken darüber, was sie mit mir gemacht hätten, wäre Lio nicht aufgetaucht.

Es ist ein langer, quälender Prozess damit aufzuhören, das *was wäre wenn* wieder loszuwerden.

"Ja", hauche ich mutig. Ich liebe Lio ohne jeden Zweifel und kann spüren, dass er meine Nähe so sehr braucht, wie ich seine. Vorsichtig legt er seine Lippen auf meine.

Es fühlt sich an wie bei unserem ersten Kuss. Ich erwidere seine Bewegungen, ziehe ihn enger an mich heran.

Mein Körper reagiert heftig auf ihn - auf verschiedenste Weisen, denn plötzlich beschleunigt sich mein Puls und ich spüre, wie mir schwindelig wird. Ich löse mich aus dem Kuss und als ich das Gleichgewicht verliere, hält Lio mich an der Taille fest, zieht mich in seinen Arm.

Meine Hände gleiten zu seinen Oberarmen, an denen ich mich festhalte.

"Alles gut", haucht er beruhigend in mein Haar. "Schritt für Schritt"

Dankbar sehe ich ihn an und als ich fest auf beiden Beinen stehe, löst er sich von mir.

"Möchtest du etwas essen?", fragt er und lässt alles weitere umkommentiert. Lio versucht den Alltag so normal wie möglich zu gestalten und mich von dem abzulenken, was manchmal mit mir geschieht. Ich bin mir sicher, dass die Psychologin ihm das als Tipp gegeben hat, doch die Art der Umsetzung kommt von ihm - und er könnte es nicht besser machen.

"Ich sollte auf jeden Fall etwas essen", gestehe ich. Meine letzte Mahlzeit musste nun 24 Stunden zurückliegen.

"Ich mache Pasta, mach du dich in Ruhe fertig"

Dann verlässt er lächelnd den Raum.

Während ich mir eine schwarze Jeans und eine grüne Bluse anziehe, läuft im Hintergrund ein Podcast. Ich höre kaum zu, brauche nur die Hintergrundgeräusche um meinen Gedanken entfliehen zu können.

Im Spiegel sehe ich eine müde Frau mit tiefen Augenringen, die in den letzten Tagen ein paar Kilo abgenommen hat. Es macht mich traurig, mich selbst so zu sehen.

Doch auch wenn sie noch nicht an die Oberfläche kommt, spüre ich in mir Wut. Wut darüber, was passiert ist und was das mit mir gemacht hat. Das ist gut, denn laut der Psychologin ist das so etwas wie die nächste Stufe, auf der ich das ganze verarbeite.

Concealer und Wimperntusche helfen die Müdigkeit zu überdecken.

Bevor ich das Schlafzimmer verlasse, mache ich das Bett und muss unwillkürlich lächeln, als ich daran denke, wie Lio und ich zusammen eingeschlafen sind. Es hat sich so richtig und so gut angefühlt.

"Perfektes Timing", sagt er als ich das Wohnzimmer betrete. Er füllt gerade zwei Teller mit Nudeln, das Besteck liegt bereits auf dem Esstisch.

"Das reicht fantastisch", lächle ich und atme mit geschlossenen Augen den Duft ein.

Wir sitzen dicht nebeneinander, während wir die Pasta regelrecht verschlingen. Ich spüre, wie eine lebensbejahende Wärme meinen Körper empor steigt.

"Du kannst mir später ein Zeichen geben, wenn du deine Ruhe brauchst, dann schicke ich die anderen nach Hause", sagt Lio und kräuselt die nächsten Spaghetti auf seinem Löffel.

"Danke", lächle ich.

"Du siehst schön aus", sagt er sanft und schaue schüchtern runter zu meinem Teller. "Du spinnst", murmle ich. "Nein", sagt er mit fester Stimme.

"Ich sehe total kaputt aus, vielleicht ein bisschen besser als vorhin" Ich zucke mit den Schultern und er legt seinen Kopf schief.

"Nur weil es dir gerade nicht so gut geht, heißt es nicht dass du nicht die schönste Frau für mich bist"

Ich werde rot, knallrot. "Lio...", beginne ich doch dann schüttelt er den Kopf.

"Es tut mir Leid, wenn ich gerade etwas aufdringlich wirke. Mir ist einfach vieles klar geworden und da ich nicht weiß, wie genau es mit uns weitergehen wird, sage ich es lieber jetzt bevor es zu spät ist"

Seine Worte versetzen mir einen kleinen Stich.

Lio musste die ganze Zeit mit seinen Schuldgefühlen und meiner zusätzlichen Ablehnung kämpfen. Ich kann ihm die Schuldgefühle nicht nehmen, genau so wenig wie er mir die Angst nehmen kann, doch wir können beieinander sein, während wir eigenständig daran arbeiten.

"Wir schaffen das zusammen", sage ich und lege meine Hand auf seine.

Er betrachtet unsere Hände, dann schaut er mir in die Augen.

"Ich liebe dich, Lio. Ich brauche nur etwas Zeit"

Und als wäre der Tag nicht schon emotional genug, läuft ihm eine Träne über die Wange, während er meine Hand zu seinem Mund führt und sie küsst.


Lio - Trust my Destiny / AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt