Kapitel 68

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(Maggy)

Ich nehme alles um mich herum wie durch einen Schleier war. In meinen Ohren höre ich meinen eigenen Herzschlag. Die Farben, Gegenstände und Wände um mich herum verschwimmen, während ich mit der Waffe in meiner Hand zum Büro renne. 

Ben ist wenige Sekunden vor mir aus der Tür gerannt. Es hat nur wenige weitere Sekunden gedauert, da habe ich Schreie und Schüsse gehört. 

Bevor ich die Treppe erreiche, drücke ich den Knopf für die elektrischen Rolladen. 

Das ganze Haus verdunkelt sich. 

Das letzte Tageslicht, das es in das Haus schafft, nutze ich um unbeschadet die Treppe runterzulaufen. 

Ben hat mir gesagt, ich solle das tun. 

Er kennt das Haus besser als jeder andere und ich verbringe hier seit Wochen 24 Stunden am Tag. Wir haben den Vorteil unserer anderen Sinne, während diese Typen keine Ahnung haben, wo sie sich befinden. 

Den Strom haben sie selbst abgestellt, bevor sie in das Haus eingebrochen sind. 

Ich komme an der letzten Treppenstufe an, als ich einen weiteren Schuss höre. Ich zucke zusammen, doch das laute Geräusch vernehme ich nur vage. 

Wenige Meter vor der Treppe befindet sich die Haustür und von dort aus sind es weitere wenige Schritte bis zu der Bürotür. 

Die erste Tür auf der rechten Seite. 

Es scheint, als wären alle anderen im Wohnbereich. Ich höre Geschrei und klirrende Geräusche, doch ich lasse das alles nicht an mich heran. 

Ich habe das Gefühl, dass meine Atmung mindestens so laut ist wie die Schüsse, die immer wieder fallen. 

Mit leisen Schritten taste ich mich vor. 

Es müssen nur noch wenige Schritte bis zum Büro sein, als ich ein Geräusch hinter mir vernehme. 

Jemand ist hier. 

Die Person bewegt sich nur, wenn auch ich mich bewege. Jemand verfolgt mich. 

Ich versuche ruhig zu bleiben, so zu tun als hätte ich noch nichts bemerkt, doch ich höre die Bewegungen dicht hinter mir. 

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. 

Ich stupse mit dem Fuß den kleinen Tisch an, der zur Dekoration seitlich neben der Bürotür steht. Auf ihm steht eine Vase, die vermutlich mehr kostet als ich in einem Jahr verdiene. 

Vorsichtig strecke ich meine Hand danach aus und greife zu, als ich das kalte Porzellan spüre. 

Die Person hinter mir kann nur noch wenige Schritte von mir entfernt sein. Ich spüre die Anwesenheit und wie sich meine Muskeln am Nacken und an den Schultern instinktiv anspannen. 

"Ich weiß, dass du da bist", sage ich und meine Stimme klingt gefasst. 

Ich höre sein Schnauben und das leichte Quietschen seiner Schuhe. 

"Du kleine...", beginnt er und ich höre seine Schritte. 

Ich atme tief ein, sammle all meine Kraft und drehe mich um. 

Die Vase knallt gegen ihn, ich höre sein überraschtes Stöhnen und den dumpfen Aufprall seines Körpers. 

"Fuck", flucht er, doch mir bleibt keine Zeit zu analysieren, was genau passiert ist und wo ich ihn getroffen habe. 

Schnellstmöglich betrete ich das Büro und schließe sofort hinter mir ab. 

Er ist schnell wieder auf den Beinen, hämmert gegen die Tür und ruft die anderen. Die Tür gibt knarrende Geräusche von sich und er wirft sich mit dem ganzen Körper dagegen. 

Sie wird nachgeben... sie wird verdammt schnell nachgeben. 

Ich versuche mich zu orientieren, ist dies hier doch der Raum, in dem ich mich am wenigsten auskenne. 

Ich erinnere mich an die großen und schweren Sessel. 

Als ich einen davon finde, stemme ich mich mit dem ganzen Körper dagegen und er setzt sich langsam in Bewegung. Ich höre erst auf, als er sich direkt vor der Tür befindet. 

Panik steigt in mir auf, weil ich Zeit verloren habe. 

Ich laufe auf den Schreibtisch zu. 

"Ahh, verdammt", fluche ich, als ich mir das Knie stoße. Dann erkenne ich, dass es eine Ecke des Schreibtisches war, die mir die Kniescheibe zertrümmern wollte. 

Kräftige Hände schlagen immer wieder gegen die Tür und das permanente, penetrante Geräusch fühlt sich in meinen Ohren an wie Folter. 

Nervös gleiten meine Finger unter den Schreibtisch und suchen alles ab. 

Ich finde ihn nicht. 

Wo verdammt ist dieser Knopf?

Tränen steigen mir erneut in die Augen. Ich darf nicht scheitern. Ich MUSS diesen Knopf finden. 

Wieder und wieder lasse ich meine Hände den Schreibtisch absuchen. 

Erst beim vierten Mal finde ich ihn, den beschissenen, vermutlich roten Knopf. 

Ich drücke drauf und sacke hinter dem Schreibtisch zusammen. 

Um mich von den Schreien und dem Klopfen abzulenken, zähle ich nun die Sekunden. 

Wenn du den Knopf gedrückt hast, bist du so gut wie in Sicherheit.

Bens Worte gehen mir immer wieder durch den Kopf. 

Bitte sei am Leben. Bitte halte noch kurz durch. 

Ich ziehe meine Beine an mich, umschließe sie mit beiden Armen und lege meinen Kopf auf die Knie. 

Todesangst, dem Tod in die Augen zu sehen, ist faszinierend. Während ich das Gefühl habe, die Welt bricht über mir zusammen. Zu viele Geräusche, zu viele außergewöhnliche äußere Einflüsse prasseln auf mich ein und mein Inneres wird immer ruhiger. 

Ich kann nichts mehr tun. Das Schicksal wird entscheiden. 

Vor meinem geistigen Auge spielen sich ein paar meiner schönsten Momente ab. Ich denke an meine Kindheit. An die Sommer mit meiner Familie und sehe mich selbst, wie ich einen Sonnenhut aufhabe und ein Eis esse. Den Mund vollkommen verschmiert. 

Ich sehe Jona und mich, wie wir uns auf dem Campus kennenlernen und die erste Nacht in unserem gemeinsamen Zimmer verbringen. 

Ich sehe Lio. 

Ich sehe seine Augen auf mir. Den ersten Tag, an dem wir uns kennengelernt haben und wie eingeschüchtert ich von ihm war. 

Wie er mir davon erzählt hat, was er dachte, als er mich so ausdruckslos beobachtet hat. 

Ich sehe, wie er meine Hand nimmt und meinen Handrücken küsst. Wie er mich liebevoll in den Arm nimmt und über meinen Kopf streicht. 

Wie Familie Ramirez und ich in diesem Haus vor dem Kamin sitzen, reden und lachen... 

Ein klirrendes Geräusch holt mich aus meinen Gedanken. 

Dann springt die Tür auf... 

Lio - Trust my Destiny / AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt