Kapitel 64

930 49 0
                                    

(Lio)

Mit geschlossenen Augen puste ich den süßlichen Rauch aus meinen Lungen. Das Grün hilft mir, mein Zittern zu unterdrücken, das mir nun schon seit Wochen das Leben erschwert. 

Es ist anstrengend und ermüdend, ununterbrochen auf Spannung zu sein. Ich kann nachts nicht schlafen, werde von meinem eigenen, hohen Puls wach gehalten und bin gefangen in meinen Gedanken. Ich kämpfe mit mir, mit dem Hass, der sich in mir zusammenbraut und mit der Angst um sie, um meine Familie und das Unternehmen kämpft. 

Magdalena weiß nichts davon, dass ich nicht mehr nur auf Zigaretten zurückgreife. Ich will nicht, dass sie sich noch mehr Sorgen macht. 

"Sollen wir?", fragt Nate und klopft mir auf die Schulter. Ich nicke und wir steigen in den Wagen. 

Vor zwei Tagen sind wir nach Oakland gefahren, um mit unserer Familie zu sprechen. So sehr ich es auch hasse, musste ich mir eine Erlaubnis für mein weiteres Vorgehen einholen. Ich musste die Zähne zusammenbeißen und wie ein kleiner Schuljunge vor einer Auswahl an Älteren stehen, ihnen von den Geschehnissen und was wir bisher herausgefunden haben, berichten. 

Dann habe ich sie darum gebeten, Rache nehmen zu dürfen. 

Ihre abschätzigen Blicke haben mich beinahe zur Weißglut getrieben und hätten sie es mir auf ihre möchtegern gnädige Art nicht erlaubt, hätte ich es vermutlich trotzdem getan. 

Wenn das alles vorbei ist, werden sie mich nie wieder sehen, das schwöre ich verflucht nochmals bei allem, was ich habe. 

"Zwischen Magdalena und dir ist alles geklärt?", reißt Nate mich aus meinen Gedanken. 

Ich schaue demonstrativ auf das Navi - noch zwei Stunden Fahrt.

"Jap", antworte ich knapp. 

Nate war derjenige, der mich darin unterstütz hat, David und Anna nach Kanada zu bringen. Wir haben oft und lange darüber gesprochen, ob Magdalena nicht mit ihnen fliegen sollte. Es wäre besser gewesen, schlauer vor allem. Etwas in mir wollte sie nicht gehen lassen und hat alles daran gesetzt, dass sie sich sowieso dagegen wehren würde. 

Ich kann nur hoffen, dass ich diesen Egoismus nicht bereuen werde. 

Es dauert nicht lange, da geht er mir so sehr auf die Nerven, dass ich ihm kurz und knapp von unserem Gespräch erzähle. Er bekommt mich nur dazu, weil ich den minimalen Drang verspüre, wirklich mit jemandem darüber zu reden. 

"Und dann?", hakt er weiter nach. 

"Haben wir miteinander geschlafen", antworte ich und bei dem Gedanken daran wird mir warm. Ich vermisse sie. Ihren Geruch, ihre weiche Haut, ihre Lippen... fuck. 

"Klar", schnaubt er lachend und schüttelt den Kopf. "Ist sie in der Villa?" Ich nicke, ziehe dabei die Lippen ein.  

"Ich freue mich jetzt schon, wenn wir dieses verdammte Haus wieder verlassen können"

"Immer noch Stress mit deinem Dad, mh?", schmunzelt Nate. Ich sehe mit einem warnendem Blick zu ihm rüber. 

Nate weiß, wie kompliziert es zwischen meinem Vater, meinem Zwilling und mir sein konnte. Er hat von klein auf die Diskussionen und die Schwierigkeiten, die wir hatten, mitbekommen. Doch dieses Mal ist es anders. Dieses Mal hat er bewusst Menschen in Gefahr gebracht, die mir etwas bedeuteten - er hat SIE in Gefahr gebracht. 

Ich bin mir sicher, dass ich nicht alles über meine Eltern und ihre Vergangenheit weiß. Meiner Mutter lag immer viel daran, uns gegenüber offen zu sein, doch genau so hätte sie alles dafür getan, dass mein Vater nicht schlecht dasteht. 

Nachdem sie gestorben ist, hat er sich dem Alkohol gewidmet und unser Unternehmen beinahe ruiniert. 

Ich erinnere mich sehr gut an einen Abend, an dem David und ich ihn in seinem Büro kauernd und vollkommen betrunken gefunden haben. An diesem Tag hätte er einen neuen Vertrag unterzeichnen sollen, doch niemand wusste, wo er war. 

Er klammerte seine Arme um sich, faselte wirres Zeug und schaute uns mit blutunterlaufenden Augen an. Dann entschuldigte er sich bei uns. Immer und immer wieder. 

Es jagte mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper. 

Er war fest der Meinung, dass er durch den Tod unserer Mutter bestraft werden sollte. Dass er schuld daran sei. An ihren gesundheitlichen Probleme - an allem. 

Und vielleicht war er das wirklich... 

"Ihr kriegt das schon wieder hin", beginnt Nate. "Wir sorgen jetzt erstmal für Ruhe" Und damit setzt er ein freches, leicht diabolisches Lächeln auf und beschleunigt den Wagen. 

Die restliche Fahrt verbringen wir überwiegend schweigend. 

Das Grün, aber auch das Gespräch mit Nate konnte mich soweit runter bringen, dass ich wenigstens etwas entspannen konnte. Das war wichtig für das, was nun kommen würde. 

Wir fahren in die Tiefgarage und es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, das letzte Mal hier gewesen zu sein. 

Pepe und einige unserer besten Männer warten bereits auf uns. 

Er drückt seine Zigarette aus, während wir auf ihn zukommen. Wir umarmen uns herzlich, die anderen begrüße ich mit einem Handschlag. 

"Showtime?", fragt Pepe und ich bestätige. 

Der eine Aufzug bringt mich hoch zu den Büros, während die anderen eine für die Mitarbeiter unzugängliche Treppe nach unten nehmen. 

Ich komme auf meiner Etage an und einige verstohlene Blicke richten sich auf mich. Ich setze mein professionelles Lächeln auf, nicke den Mitarbeitern zu und lasse mich von einigen in kurze, unwichtige Gespräche verwickeln. 

Es ist wichtig, dass sie nicht das Gefühl bekommen, dass irgendwas nicht stimmt. 

"Hatten sie einen schönen Urlaub, Mr. Ramirez?", fragt Dora, eine unserer älteren Mitarbeiterinnen. "Einen wunderschönen Urlaub, vielen Dank", lächle ich und schaue ihr dabei direkt in die Augen. Sie windet sich unter meinem Blick. "Schön, Sie sehen sehr erholt aus", fügt sie an, bevor ich mich bedanke und weitergehe. 

So eine beschissene Lügnerin. 

Vermutlich wird sie gleich mit den anderen darüber tratschen, dass ich meinen *Urlaub* in sämtlichen Nachtclubs an der Westküste verbracht haben muss, so kaputt wie ich aussehe. 

Als ich endlich in meinem Büro ankomme, schließe ich die Tür hinter mir und schaue mich um. Ein nostalgisches Gefühl legt sich über meine Schultern - Wieder denke ich an sie. An jeden einzelnen Moment, den sie während ihres Praktikums mit mir hier verbracht hat. 

Ich gehe zu meinem Schreibtisch, öffne die Schublade mit meinem Schlüssel und hole sie heraus... die Videobeweise. 

Als ich sie wieder schließe, bleiben meine Augen an dem Foto meiner Mutter hängen. 

Sofort bilde ich mir ein, dass das Tattoo auf meiner Hand, die Rose für sie, kribbelt. Ich lächle sie traurig an, verspreche ihr in meinen Gedanken, alles besser zu machen, und verlasse dann das Büro. 

Es ist allerhöchste Zeit, alles besser zu machen... 

Lio - Trust my Destiny / AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt