Kapitel 6

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(Maggy)

"Er hat was?", fragt Jona ungläubig als ich ihr von Lios Auftritt im Café erzähle. "Ich konnte es auch nicht glauben, aber er hat drei Stunden gewartet" "Und da konntest du mir nicht mal kurz schreiben? Ich hätte ihn zu gerne gesehen" Schmollend lehnt sie sich an ihren Schreibtisch. "Wie ich es zuvor auch ihm gesagt habe: Ich musste arbeiten", seufze ich und sortiere meine frisch gewaschene Kleidung in meinem Schrank ein. Eigentlich hatte ich es nicht so damit, regelmäßig meine Wäsche hier im Wohnheim zu waschen, denn gemeinschaftlich genutzte Waschmaschinen sind wirklich nicht schön, aber während des Praktikums wollte ich ordentlich aussehen.

"Woher wusste er überhaupt, wo du bist?", fragt sie, bereit für eine weitere Verschwörungstheorie. "Von meinem Lebenslauf, nehme ich an" Ich hatte mir diese Frage auch schon gestellt. "Aber da steht nicht, dass du samstags arbeitest. Dafür steht da deine Handynummer, das wäre doch viel einfacher gewesen." Recht hatte sie schon, aber ich hatte auf alles eine logische Antwort. "Naja, ich arbeite die ganze Woche dort, also ist es klar, dass ich am Wochenende arbeite. Und hätte ich nicht mehr im Praktikum erscheinen wollen, hätte eine einfache Nachricht vermutlich nicht gereicht."

"Aber schon komisch, dass er so wütend reagiert hat. Was sich wohl in diesem Karton befindet?", grübelt sie weiter. "Naja, ich bin bloß Praktikantin. Auch wenn ich eine Verschwiegenheits-Klausel unterzeichnet habe, ist es sicher nicht angebracht, wenn ich alle möglichen Verträge und Bedingungen lese" So erklärte ich es mir zumindest selbst. Auch wenn ich immer noch neugierig war, würde ich sicherlich nicht noch einmal in das Archiv gehen.

Den restlichen Sonntag verbringe ich damit, die Skripte meiner Fächer durchzugehen. Für die Zeit des Praktikums haben wir zwar keine Vorlesungen, aber die Prüfungen stehen unmittelbar danach bevor, also fange ich lieber schon mal an. An meinem Schreibtisch verbringe ich die nächsten Stunden, lese mir die Skripte durch, mache mir Notizen und immer wieder, in den kleinen unkonzentrierten Momenten, muss ich daran denken, wie Lio Ramirez drei Stunden in einem Café am Campus auf mich gewartet hat.

Montagmorgen ist der Himmel bedeckt und der Bus spät dran. Ich starre immer wieder auf meine Uhr und bereue es, dass ich den Bus nehmen wollte, der kurz vor Arbeitsbeginn erst da ist. Nach 10 Minuten Verspätung steige ich endlich ein und könnte es gerade noch so schaffen. Die Fahrtzeit nutze ich dazu, um meine Lernziele für die Woche zu planen. Ich weiß, dass ich ein kleiner Streber bin. Der Ehrgeiz rührt daher, dass ich es für meine Familie schaffen möchte. Meine Eltern haben mir immer alles ermöglicht, obwohl wir nie viel hatten. Das möchte ich ihnen auf jeden Fall zurückgeben.

Ich renne in das Gebäude und stemple mich ein. Ich habe noch genug Zeit, um zu dem verdunkelten Aufzug zu laufen. Als ich oben ankomme, sieht man durch die Fenster nichts als grauen Nebel. Die Atmosphäre im Büro ist direkt eine ganz andere, auch wenn es immer noch gemütlich ist.

"Langsam breitet sich der Herbst aus" Lio steht plötzlich mit einer Tasse Kaffee in der Hand neben mir. Ich schaue erschrocken zu ihm hoch. Wie macht er das bloß immer? "Ja, leider" Sage ich und gehe weiter zu meinem Platz. Wie es scheint, begleitet er mich. "Ich soll dir heute eine Aufgabe von meinem Vater geben", erklärt er dabei. Eine Aufgabe von Ben Ramirez höchstpersönlich? Ich soll eine Präsentation zum Thema E-Mobility an dem Standort Seattle erstellen. Die Informationen dazu finde ich im Intranet und in einigen Akten. "Die Akten lege ich dir dann gleich auf den Tisch", er zwinkert mir zu und geht an mir vorbei. Es ist zu früh für Scherze in Richtung Aktenarchiv, Lio.

Mein erster Weg führt mich zu Clara, um mich bei ihr für meinen Abgang am Freitag zu entschuldigen. Sie winkt ab, denn Lio hätte ihr erklärt, dass das seine Schuld war und ihr die nötigen Akten gebracht. Ein Chef, der die Akten heraussucht...

Mein zweiter Weg führt in die Küche, in der ich mir einen Tee zubereite. Ich nehme mir eine Tasse aus dem Schrank, die mit dem Firmenlogo versehen ist und mache schnell ein Foto für Jona. *Business Woman* schreibe ich drunter. Als ich an einem Schreibtisch Platz nehme, liegen die Akten bereits auf meinem Tisch.

Ich arbeite den ganzen Vormittag an der Präsentation. Ich bringe erst ein paar allgemeine Fakten ein, dann die Umstellungen hier am Standort, Zukunftspläne, Vorteile und Nachteile... Es dauert eine Weile, bis ich mit den Folien zufrieden bin.

Unsicher, ob ich mich direkt an Ben Ramirez wenden soll, gehe ich zu Lio. Sein Büro ist verlassen, also beschließe ich erstmal meine Tasse wegzubringen und in zehn Minuten noch einmal zu schauen. Mit meiner Tasse und dem Papier meines Müsli-Riegels betrete ich die Küche, in der Lio und sein Vater stehen. Ich muss mich zwingen, die Küche nicht rückwärts wieder zu verlassen. Das war das erste Mal, dass ich Ben Ramirez persönlich sah. Er war die meiste Zeit in seinem Büro und da ich mit dem Rücken dazu saß, bekam ich nicht wirklich mit, wenn er es verließ.

"Magdalena, wie kommst du mit der Präsentation voran?", fragt Lio an mich gewandt und sein Vater dreht sich zu mir um. Mir fällt sofort die große Ähnlichkeit auf. Die Zwillinge sehen genau aus wie er, nur die Augen sind verschieden. Auch er hat diesen undefinierbaren autoritären Gesichtsausdruck wie Lio und beide sind ungefähr gleich groß. "Ich bin fertig, ich wollte gerade zu dir kommen und sie mit dir noch einmal durchgehen", sage ich schüchtern.

"Das ist nicht nötig. Schick sie einfach direkt an den Chef", mit seiner Tasse zeigt er direkt auf Ben Ramirez. Dieser kommt auf mich zu und will mir seine Hand reichen. Schnell verlagere ich meine Tasse in die Hand, in der auch schon das Papier ist und reiche ihm ebenfalls die Hand. "Schön Sie kennenzulernen, Ms. Nowak" Ich bin erstaunt darüber, dass er meinen Namen kennt. Während er so nah vor mir steht, kann ich in seinem Gesicht immer noch die Trauer erkennen. Er musste viel in seinem Leben erlebt haben, das konnte ich spüren.

"Okay, ich schicke ihnen die Präsentation sofort", lächelte ich. Mr. Ramirez nickte. "Kommen Sie danach gerne in mein Büro, dann gehen wir sie durch" Ich schaffte es noch, das Papier wegzuwerfen, aber ich ging mit meiner leeren Tasse zurück auf meinen Platz. Als ich die E-Mail eintippe, fange ich immer wieder von vorne an. Ich ermahne mich selbst, mich zusammenzureißen, aber das ist gar nicht so einfach.

Nachdem ich 10 mal geschaut habe, ob ich auch wirklich den richtigen Anhang sende, schicke ich es ab und reiße die Hände von der Tastatur.

Lio - Trust my Destiny / AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt