Kapitel 62

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(Lio)

Ich steige aus dem Wagen, schaue in den sternenklaren, dunklen Himmel und seufze. 

Es ist viel später, als ich gehofft hatte und vielleicht das erste Mal, dass Magdalena wieder alleine einschlafen musste. Wut steigt in mir auf bei dem Gedanken daran, sie könnte es als Strafe auffassen. 

Ich will sie nicht bestrafen, ich will sie beschützen. 

Ich gehe ein paar Schritte, bleibe direkt vor der Haustür stehen. An der Garage stehen zwei unserer Männer, zwei weitere direkt vor der Eingangstür. Wenn man nicht weiß, dass sie dort sind, übersieht man sie leicht. 

Sie nicken mir zu, was ich knapp erwidere. Dann ziehe ich eine zerbeulte Schachtel Zigaretten aus meiner Jackentasche, ziehe eine der drei übrig gebliebenen Zigaretten heraus und zünde sie an. 

Das ist mein erster ruhiger Moment an diesem Tag - und vermutlich der letzte für einen längeren Zeitraum. 

Ich ziehe erneut an der Zigarette, recke meinen Kopf gen Himmel während ich den Rauch aus meiner Lunge puste. 

Dieser Tag war so verdammt anstrengend und trotzdem konnte ich an nichts anderes denken, als daran wie sie das Zimmer verlassen hat. Es hat mich all meine Kraft gekostet, sie nicht aufzuhalten. 

Fuck, am liebsten hätte ich sie an das Bett gefesselt, sie geküsst und ihr gesagt, dass sie genau dort bleibt, bis ich diese verfluchte Scheiße geklärt habe. 

Doch so jemand bin ich nicht... oder? 

Der Zigarettenstummel landet auf dem Boden. Ich drücke ihn aus, doch dann hebe ich ihn auf. Aus Respekt vor meinem Elternhaus, aus Respekt vor meiner Mutter. 

Ich schließe die Haustür hinter mir und höre den Fernseher aus dem Wohnzimmer. In mir steigt Hoffnung auf. Erst dachte ich, mein Vater würde sich im Wohnzimmer aufhalten, doch aus dem Fernseher dröhnen Stimmen, die mir bekannt vorkommen. Eine Serie, die ich mit ihr geschaut habe. Viel mehr hat sie geschaut, während ich sie beobachtet habe... 

Meine schwere Jacke fällt zu Boden, dann öffne ich den Gürtel, an dem meine Waffe befestigt ist und drücke sie einem der beiden Sicherheitsmännern in die Hand. Es wäre keine gute Idee, damit nun im Wohnzimmer aufzutauchen. 

Die Tür ist angelehnt. Ich bleibe direkt davor stehen, spähe durch den Spalt und sehe, wie sie auf dem Sofa liegt. Eingekuschelt in eine Decke, fokussiert auf den Film. 

Sie bemerkt mich nicht. 

Ich nehme mir die Zeit, um ihr Gesicht zu analysieren. Hat sie geweint? Wirkt sie aufgebracht oder müde?

Ich kann nichts davon erkennen und weiß plötzlich nicht mehr, ob das gut oder schlecht ist. 

Mit dem Handrücken schiebe ich die Tür weiter auf, sodass sie auf mich aufmerksam wird. 

Ihre großen Augen schrecken vom Fernseher in meine Richtung. Als sie mich erkennt, entspannt sie sich wieder. Magdalena richtet sich auf, bleibt unter der Decke und sieht mich nervös an. 

"Hey", begrüße ich sie vorsichtig und sie erwidert es. 

Ich kann ihre Gedanken regelrecht spüren. 

Aus einem Impuls heraus laufe ich auf sie zu, setze mich neben sie. Entgegen meiner Entschlossenheit, vorsichtig zu sein, finden meine Hände automatisch ihren Nacken. Ich drücke sie zu mir. Ihre Lippen ziehen mich magisch an und ein leises Seufzen entfährt mir, als sie meinen Kuss erwidert. 

Es ist ein sehnsüchtiger, liebevoller Kuss. 

"Wie gehts dir?", hauche ich als wir voneinander lassen. Sie legt ihre Hand in meine. Obwohl ich gerade draußen war, ist ihre viel kälter. Ich umschließe sie, streiche mit dem Daumen über ihren Handrücken. 

"Ich bin durcheinander", gesteht sie und schaut auf unsere Hände. 

Mit der anderen Hand streiche ich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. 

Ich sehe, wie sie mit sich kämpft. Wie sie in mir ihren Freund, den Beschützer sieht und auf der anderen Seite fragt sie sich, was sie an mir übersehen hat. 

So vieles Magdalena, du hast so vieles übersehen... 

"Komm, wir gehen hoch", sage ich und schalte den Fernseher aus. Sie ergreift zögernd meine Hand, die ich ihr reiche und ich führe sie durch den Eingangsbereich, die Treppe hoch bis in das Gästezimmer, das ich mittlerweile so sehr hasse. 

Nachdem ich die Tür hinter uns geschlossen habe, mache ich einen Schritt auf sie zu. 

Magdalena steht nervös in dem Zimmer. Sie trägt einen meiner Pullover, die Ärmel so lang, dass ich ihre Hände nicht sehen kann. Sie schaut zu mir hoch und beißt sich auf ihrer Unterlippe herum. 

Fuck, sie hat gar keine Ahnung, was sie mit diesem Blick und dieser Mimik in mir auslöst. 

Ich schlucke schwer, versuche meine Gedanken wieder in das hier und jetzt zu bringen. 

"Ich weiß nicht, ob ich mit der Wahrheit klar komme", gesteht sie mit belegter Stimme. Ihr Augen wandern unruhig zwischen meinen hin und her. 

Statt auf sie zuzugehen, nehme ich meine Armbanduhr ab, lege sie auf die Kommode und lasse mir Zeit. 

"Du hast die Wahrheit verlangt, oder nicht?", frage ich in einem gleichgültigen Ton. 

Sie nickt nachdenklich. "Ja, aber jetzt weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll" Sie fährt sich mit einer Hand über ihre Stirn, beobachtet mich, wie ich meine Sachen in dem Zimmer verteile, bis ich meinen Schmuck abgelegt und mein Messer, welches an meinem Knöchel befestigt war, abgenommen habe. 

Erst dann gehe ich auf sie zu. Je näher ich ihr komme, desto nervöser wird sie. 

Ich lege ihr meine rechte Hand in den Nacken, fixiere sie leicht, damit sie mir weiter in die Augen schaut.

"Ich habe dir nie etwas vorgemacht", beginne ich. "Ich habe versucht, dir mein Leben aus allen Perspektiven zu zeigen" Sie öffnet ihren Mund, um sich zu erklären, doch ich schüttle den Kopf. 

"Mir liegt viel daran, wieder zum Alltag zurückzukehren. Genau dafür tue ich gerade alles, was in meiner Macht steht."

Die nächsten Sätze habe ich mir lange überlegt, denn es fällt unendlich schwer, sie auszusprechen. 

"Jetzt hast du es erlebt. Du hast gesehen, wie es sein kann. Deshalb gebe ich dir eine weitere Chance, dich zu entscheiden: Willst du mich, uns wirklich? Dann bleib und lass mich das zu Ende bringen, was andere angefangen haben. Ist dir das doch zu viel? Dann darfst du gehen" 

Ihre Augen glitzern und meine Worte hinterlassen einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge. 

"Wirst du mich hassen, wenn ich gehe?", fragt sie mädchenhaft. "Nein", antworte ich und eine Gänsehaut breitet sich auf meinem Körper aus. Wie könnte ich sie jemals hassen? Es wäre schlau von ihr, zu gehen. 

"Und wenn ich bleibe?"

"Dann lasse ich dich nie wieder gehen." 


Lio - Trust my Destiny / AbgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt