Kapitel 1: Noah

3.3K 96 5
                                    

Im englischen gibt es den Ausdruck between a rock and a hard place, sich zwischen einem Stein und einem harten Ort befinden. Lustig, dass ich beim Einstein gerade an diesen Spruch denken muss. Ich glaube er bedeutet so viel wie, festzustecken zwischen zwei scheinbar unverrückbaren Dingen. Und das passt ziemlich gut zu dem Gefühl das mich beherrscht.
"Ich will das alles nicht. Befreundet sein."
Das waren seine Worte. Und er meinte auch, dass ihm der Kuss etwas bedeutet hat. Mich hat er vor allem durcheinander gebracht, aufgewühlt und ja, irgendwie auch traurig und glücklich im gleichen Moment gemacht. Ja, das geht. Traurig schön und schön traurig. So können Küsse sein.
Als Colin aufgestanden ist habe ich nicht reagiert. Als ich später eingeschlafen bin war er noch immer nicht zurück auf unserem Zimmer, und heute früh bereits verschwunden. Ich weiß, dass er da war, weil seine Sachen gepackt waren. Das Schuljahr ist vorbei, es geht über den Sommer nach Hause.
Nach Hause.
Der Ort, an dem ich am wenigsten sein möchte. Ganz besonders jetzt.
Vor dem Zugfenster zieht die Landschaft an mir vorbei wie im Film. Wälder wechseln sich ab mit Feldern und Hügeln.
Über die Kopfhörer laufen heute mit death cab for cutie und "I will follow you into the Dark" mal deutlich sanftere Töne, als das sonst so meine Art ist, aber auch mein Herz braucht mal ne Streicheleinheit.
Inzwischen habe ich wenigstens aufgehört alle zwei Minuten mein Handy auf eine Nachricht von ihm zu checken. Das mach ich jetzt nur noch alle fünf Minuten. Immerhin ein Fortschritt.
Ich weiß nicht mal wo er wohnt, kenne seine Adresse außerhalb des Einstein Internats nicht, und hab null Plan ob er den Sommer über in Urlaub ist. Vermutlich fliegt er mit seinen Eltern nach Miami, trägt den ganzen Tag über kein T-Shirt, und lässt sich von irgendeinem Surferboy namens Jack auf eine Kugel Eis samt Knutschsession einladen. Ich kotze schon beim Gedanken daran.
Wenn mein Leben ein Film wäre, dann würde der idiotische Hauptcharakter der da im Zug sitzt, beim nächsten Bahnhof aus dem Zug springen. In der nächsten Szene würde man ihn in Zeitlupe eine Straße entlang rennen sehen. Dazu würde irgendein 80ies Klassiker laufen, love will tear us apart oder so, und regnen würde es. Das Wasser würde in den Pfützen nur so spritzen, während der Hauptprotagonist weiter rennt, aufs Ende der Straße zu. Dort sieht er ihn stehen, wie er gerade versucht die Garage abzuschließen in der er sein Fahrrad abgestellt hat. Sein Shirt klebt ihm nass am Oberkörper (ja ja, ich habe offenbar eine ungesunde Fixierung was Colin's Oberkörper angeht). Er dreht sich um, und ihre Blicke treffen sich. Der Idiot aus dem Zug (also ich) reißt das Gartentor auf, auf Colin's Gesicht zeichnet sich eine Frage ab, aber ehe er fragen kann was ich hier mache, lege ich meine Hände in seinen Nacken und küsse ihn. Die Kamera verlässt mit nem Dronenflug langsam die Szenarie gen Himmel. Happy end. Abspann. Das war ein Film von Noah Idioten Productions.
...
Soviel zum Kopfkino.
Stattdessen sitzt der Idiot immer noch im Zug, isst Chips aus dem Bahnhofautomaten die nach Pappe schmecken, und schaut nochmal aufs Handy. Ich weiß eigentlich, dass er mir nicht schreiben wird, aber der Wunsch ist eben manchmal der Vater der Gedanken.
Beim Thema Vater vergeht mir der Appetit dann doch endgültig. Noch 10 Minuten, dann bin ich zurück in der alten Heimat. Sechs lange Wochen werde ich das aushalten müssen. Wenigstens ist mein Abschlusszeugnis dank des Schulwechsels besser als im letzten Jahr, sodass mir wenigstens diese Standpauke erspart bleibt.
"Nächster Halt...", noch einmal schaue ich auf mein Handy. Und mir bleibt beinah das Herz stehen. Eine Nachricht von Colin... Meine Hände zittern beim öffnen, und die Worte die ich lese tun irgendwie weh. Weil sie so weit entfernt sind von dem was ich erwarte, und wenn ich offen mit ihm gesprochen hätte, dann wüsste er das auch.
"Hab einen schönen Sommer."

Ein Stein ist hart zu brechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt