Kapitel 8: Noah

1.5K 77 2
                                    

Luft holen! Ich brauche einen Moment um zu begreifen, wo ich bin. Mein T-Shirt klebt feucht an meinem Rücken, und mein schneller Atem hallt in meinem Zimmer nach. Ich versuche mich zu beruhigen, meinen Herzschlag wieder zu normalisieren. Einatmen. Ausatmen... Einatmen. Ausatmen.
Ich blinzle in die seichte Dunkelheit vor mir. Nur ganz sanftes Mondlicht dringt durch eines der beiden Fenster in meinem Zimmer.
Meine Alpträume waren auf dem Internat besser geworden. Doch seit ich zuhause bin holen sie mich wieder ein, greifen nach mir sobald ich in den Schlaf gleite. Wie schwarze Materie klebt das Elend meines letzten Traumes noch in meinen Gedanken fest.
Colin stand im Flur vor mir. Er hat nach mir gerufen, und ich habe geantwortet, doch er konnte mich nicht sehen. Es war als wäre ich unsichtbar. Plötzlich brach Feuer aus den Wänden. Er schrie, und ich wollte zu ihm eilen, doch meine Füße waren von Schlingpflanzen umgeben, die aus dem Parkettboden unter mir drangen und meine Füße fesselten. Ich rief verzweifelt seinen Namen, wollte wenigstens, dass er weiß, dass ich in der Nähe bin, doch kein Laut kam aus meiner Kehle. Dann bin ich aufgewacht.
Wäre ich jetzt auf dem Einstein müsste ich nur zu Colin's Bett rüber schauen, und mich so davon überzeugen, dass er okay ist, dass er friedlich schläft. Stattdessen lasse ich mich wieder in die Laken zurück sinken. Ich taste nach meinem Handy.
Keine neuen Nachrichten.
Kein Wunder. Schließlich habe ich auf sein Foto vor zwei Tagen einfach nicht mehr reagiert.
Ich klicke auf sein Profilbild. Es ist noch immer das gleiche wie im vergangenen Schuljahr. Er sitzt mit weißem Shirt und Lederjacke auf ein paar Eingangsstufen vor dem Internat und grinst in die Kamera. Ich glaube Julia hat dieses Foto von ihm gemacht. Er wirkt glücklich. Ich frage mich in letzter Zeit, ob ich etwas von diesem Glück von ihm weggenommen habe. Denn das scheint irgendwie mein Naturell zu sein. Wäre ich ein Superheld aus dem Marvel Universe wäre ich Darko, der Dunkelmacher oder so.
Plötzlich leuchtet neben Colins Namen "online" auf. Ich erstarre. Es ist 3:45 Uhr nachts. Warum ist er wach?

"Warum bist du on?", ploppt in genau diesem Moment in unserem Nachrichtenverlauf auf.
"Ich könnte dich das gleiche fragen", antworte ich.
"Kann nicht schlafen. Zu heiß."
"Same." (denn das klingt besser als "ich habe Herzrasen, weil ich es gerade nicht geschafft habe dich aus einem brennenden Internatsflur zu retten. Verdammte Schlingpflanzen!").
Ich starre auf das leuchtende Display in meiner Hand, aber nichts tut sich.
"Bist du nun doch eingeschlafen?"
Er tippt.
"Nein :)"
Dann tippt er erneut.
"Wie wach bist du?"
"Sehr wach."
"Lust auf einen Horrorfilm?"
Ich muss lachen. Die Vorstellung, dass Colin mitten in der Nacht alleine auf die Idee kommt einen Horrorfilm zu schauen amüsiert mich.
"Ich bin aber nicht da, um dir das Händchen zu halten Angsthase"
"Ich habe gestern escape room geschaut! Alleine! Von wegen Angsthase!"
Ich muss lächeln. Denn ohne dass Colin sich darüber im klaren ist, hat er gerade eine der großen Wahrheiten ausgesprochen. Denn er hatte den Mut zu dem, wozu mir der Mut gefehlt hat. Ich kann zig Horrorfilme vorwärts und rückwärts schauen, aber denjenigen zu küssen den man küssen will, und ihm zu sagen, dass dieser Kuss Bedeutung hat. Das ist wahre Courage. Der Angsthase in dieser Geschichte bin also ich.

"Hast du denn Filmwünsche? Scream, Carrie, ES oder doch lieber Shining?" Ich bin gespannt auf seine Antwort.
"Okay, jetzt bekomme ich bei der Vorstellung doch irgendwie Angst. Ich wollte immer mal ES schauen, aber jetzt hier so alleine einem Horrorclown beim morden zusehen? Das packe ich nicht."
"Besser so. Wir schauen den einfach mal zusammen, wenn ich dich beschützen und mit meinem Leben verteidigen kann." (Flirte ich gerade?)
"Sie sind wahrhaftig ein Ritter, Noah Temel."
Und mein Herz meldet sich wieder bei diesem Worten, dieses Mal aber nicht mit panischen Pauken, sondern eher mit einem fröhlichen 3/4 Takt.
Eigentlich will ich schreiben "ich bin DEIN Ritter", aber natürlich tue ich das nicht. Stattdessen bekommt er nur ein: "Versuch zu pennen". Mehr nicht.
Und wie meistens tut es mir leid, dass ich ihn wieder von mir stoße. Aber wenn dir jemand wirklich etwas bedeutet, dann beschützt du ihn mit allen Kräften. Auch, wenn das bedeutet, denjenigen vor dir selbst und deinem Leben schützen zu müssen.

Ein Stein ist hart zu brechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt