Kapitel 33: Noah

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"Keine Ahnung!", rufe ich laut aus, und drehe mich im Gehen kurz in Richtung Colin. "Vielleicht hat ihn ein wildes Tier gefressen! Ist mir egal! Können wir jetzt bitte einfach nur zurück gehen!"
"Noah!", erklingt es hinter mir ermahnend, und ich bleibe stehen und drehe mich nun ganz zu ihm um.
"Ja, was Noah! Ich hab keinen Bock, wegen dem Typen noch an einem Blitzschlag zu sterben!"
In dem Moment zieht Colin erneut sein Handy aus seiner Hosentasche, sein T-Shirt ist schon ganz durchweicht und klebt ihm am Körper.
"Okay, Luca ist zurück im Einstein."
"Ach, da bin ich aber froh", rufe ich und drehe mich zum gehen. "Ich hoffe er hats warm und gemütlich!"... Und etwas leiser hinterher rutscht mir noch ein "Blöder Penner" raus.
Da stapft Colin wütend an mir vorbei und stellt sich vor mich. "Was ist denn nur los mit dir?! Bist du beleidigt, dass du den Status des Neuen verloren hast oder was?"
Ich kann sehen, wie sich seine Brust unter seinem nassen Shirt hebt und senkt.
Ich lache verächtlich wegen seines Vorwurfs. "Na klar, auf diesen Status habe ich ja auch immer so viel Wert gelegt. Der Typ ist einfach ein Idiot", und damit schiebe ich mich an Colin vorbei und laufe im strömenden Regen in Richtung Einstein. Kurz darauf bleibe ich dennoch stehen und drehe mich um. Ich mag gerade angenervt sein, aber ich muss trotzdem wissen, dass Colin nicht alleine im Wald zurück bleibt.
Doch er steht jetzt am Rand des Waldwegs und sieht mich trotzig an.
"Woher weißt du das? Weil er dich freundlich begrüßt hat oder dir mal ne Frage gestellt hat?", ruft er mir durch den Regen hindurch zu. Und dann: "Von mir hast du das doch am Anfang sicher auch gedacht. Dass ich ein Idiot bin! Weil du einfach ein Problem damit hast, Menschen mal normal an dich ran zu lassen."
Jetzt reicht es mir aber. Wütend stapfe ich auf ihn zu. "Ran zu lassen? Ich kann dir sagen, wer hier wen gerne an alles mögliche ran lassen würde!"
"Was soll das denn heißen?"
"Oh Himmel, Colin! Der Typ hängt an deinen Lippen sobald du sprichst und tatscht dich an wann immer sich die Möglichkeit eröffnet!"...
Und plötzlich stockt etwas in mir. Eine Idee verfestigt sich in meinem Kopf, die ich bisher gar nicht so richtig zugelassen hatte.
Ich trete einen weiteren Schritt in Richtung Colin, der mich fassungslos anstarrt.
"Willst du das?", meine Stimme ist jetzt beinah ein Flüstern. Ich schlucke, weil mir die Antwort eine scheiß Angst macht.
"Sorry, Colin", ich versuche versöhnlicher zu klingen, als noch gerade eben. "Ich hatte an so was gar nicht gedacht... Willst du was von Luca? Ist es das?"
Und auch wenn mein Herz brechen würde, ich will ihm auf keinen Fall ein schlechtes Gefühl wegen eines Typen geben, der ihm womöglich all das geben kann, was ich nicht hinbekomme.
Colin lacht verbittert auf. "Wow. Noah. Ehrlich."
... Ich kann irgendwie nichts mehr sagen, weil ich mir gerade wie ein Idiot vorkomme.
Da tritt Colin ganz nahe an mich heran.
"Bist du etwa eifersüchtig?", fragt er.
Ich wische mir vergebens den Regen aus dem Gesicht, und zucke etwas unbeholfen mit den Schultern. Soll er es doch wissen. Alles kann. Nichts muss.
"Sprich es doch wenigstens mal aus, Noah", sagt er frustriert. "Was soll schon passieren? Hier ist keiner außer dir und mir!"
Was soll schon passieren? Ich muss fast schmunzeln vor so viel naivem Gutglauben. Ich meine, Dinge auszusprechen macht sie oft erst wirklich wahr. Wenn ich das ausspreche, was seit Monaten in meinem Kopf umher wirbelt, dann werden diese Worte sich zwischen uns ausbreiten wie dichter Nebel. Dann werde ich sie nicht mehr ungesprochen machen können. Und ich will sie ihm sagen! Etliche Male schon wollte ich das. Aber was passiert dann? Das ist es um was es geht. Worte bringen nämlich in der Regel Konsequenzen mit sich.
Und in diesem Moment will ich ihn so sehr küssen, spüre regelrecht, wie jede Faser in mir sich nach ihm sehnt.
Doch einmal mehr ist Colin derjenige, der mich überrascht, denn plötzlich liegen seine Lippen erneut auf meinen. Trotz der Erfahrung nach unserem ersten Kuss, hat er den Mut gehabt, diesen Schritt noch einmal zu gehen. Und als würde ihm das bewusst, als hätte er einen vermeintlichen Fehler erkannt, weicht er erschrocken zurück. Mit aufgerissenen Augen und außer Atem sieht er mich an. Der Regen läuft in Bächen über sein Gesicht.
"Entschuldige", flüstert er.
Doch dieses Mal werde ich es sein, der Fehler nicht wiederholt.
Alles kann. Nichts muss.
Aber das hier, das muss sein. Und deshalb streife ich mit meinen Händen sein Gesicht, greife in seinen Nacken und ziehe ihn an mich heran.
Unsere feuchten Lippen fallen ineinander wie zwei ungleich gepolte Magnete. Als wäre es ein Naturgesetz, dass sie zueinander finden. Meine Finger fahren in seine nassen Haare, und ich kann ihn unter meiner Berührung erschaudern spüren. Dann legen sich seine Arme an meine Seite, als müsse er sich an mir festhalten, und ich streife wie zur Antwort mit meiner Zunge langsam über seine Lippen.
Zögerlich öffnet er sich mir, und als ich mit meiner Zunge in seinen Mund eintauche, entfährt mir ein leises stöhnen der Erleichterung. Zu lange scheint es, habe ich mir diesen Moment verwehrt, habe mir verboten diesem Gefühl in mir nachzugeben. Ich weiß, dass dieser Kuss Konsequenzen mit sich bringen kann, aber darüber will ich in diesem Moment noch nicht nachdenken.
Ich will nur fühlen. Fühlen, wie unsere Zungen sich langsam zu erkunden beginnen, wie die mutigen Eroberer einer neuen Welt.

Ein Stein ist hart zu brechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt