Kapitel 58: Noah

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Ich habe diese Stimme seit dem Sommer nicht mehr gehört. Und auch da bin ich ihr oft genug erfolgreich aus dem Weg gegangen. Ich habe meinen Eltern bewusst nichts von diesem Fest erzählt, also können sie nur über eine der Schulrundmails davon erfahren haben. Aber auch dann hätte ich nie erwartet, dass sie auftauchen würden. Schulaktivitäten oder ähnliches besuchen sie nur selten. Dafür müssten diese lokal bei uns vor Ort stattfinden, und mein Vater müsste sich dort ins rechte Licht rücken können. Das letzte Fest an dem mein Vater teilnahm war ein Abschlussfest vor drei Jahren gewesen, und das auch nur, weil die Familie meines Vaters in diesem Jahr die Renovierung der Sporthalle finanziert hatte und eine Laudatio darauf gehalten wurde.
Colin ist von mir zurück gewichen vor Schreck. Ich kann's ihm nicht verübeln. Diese Stimme ist ein strafender Peitschenhieb. Ein Fallbeil. Es saußt erbarmungslos auf dich herab und teilt dich in zwei Hälften.
"Gehst du mal bitte zu den anderen", sage ich leise zu Colin. Der schaut mich erschrocken an. Ich habe diesen Ausdruck noch nie auf seinem Gesicht gesehen, und kann ihn gar nicht einordnen.
Mein Vater tritt einen Schritt auf uns zu.
"Bitte, Colin," und endlich kommt er meiner Aufforderung nach.
Mein Vater ist wie immer eine Erscheinung, die die Blicke der Menschen auf sich zieht. Er hinterlässt wie aus Prinzip Eindruck, das weiß ich, und er weiß es sowieso. Er ist groß, athletisch, und wenn wir von gewissen Schönheitsklischees ausgehen auch sehr attraktiv. Er trägt, wie immer außerhalb des eigenen Zuhauses, einen Maßanzug aus Seidenfaser. Perfekt zurecht gemacht mit Slim fit Hemd und Einstecktuch. Ich weiß, dass die Leute sich nach ihm umdrehen wenn er vorüber geht, und wie wichtig es ihm ist, dass sie genau das tun.
Als mich sein fester Griff am Handgelenk packt erschrecke ich viel weniger vor der Härte und der Kraft mit der er zugreift, denn davor überhaupt von ihm berührt zu werden.
"Das war's Junge", ist alles was er sagt, und er zieht mich hinter ihm her in Richtung Schulgebäude.
"Deine Mutter und ich nehmen dich noch heute Abend mit zurück nach Hause."
Ich lasse mich bereitwillig mitziehen, denn egal was das hier jetzt für mich für Konsequenzen hat, wenn ich mich nicht füge, dann bekommt Colin am Ende auch noch etwas davon ab.
Als die Haupttüre hinter uns ins Schloss fällt verstummt der seichte Lärm, der bisher noch von der Herbstfeier hörbar war. Stattdessen ist in den Fluren hier drin niemand unterwegs. Nur von weit weg kann ich ein paar Geräusche hören, womöglich aus der Küche.
Da tritt meine Mutter plötzlich aus den Gästetoiletten in der Mitte des Hauptflurs.
Zuerst tut sich auf ihrem Gesicht ein zartes Lächeln auf, als sie mich erblickt. Doch als sie die Hand meines Vaters sieht, die noch immer wie ein Schraubstock um mein Handgelenk liegt, und mir zunehmend den Blutfluss in die Hände abdrückt, scheint sie zu erkennen, dass wir wieder einmal an einem Punkt sind, den jede*r in dieser Familie kennt. Und ich schwanke inzwischen so sehr zwischen den Überresten kindlicher Angst, die ich vor ihm habe. Einfach, weil es irgendwie immer so war. Und andererseits einer bleiernen Müdigkeit, weil es mich inzwischen so erschöpft.
"Schatz", flüstert sie leise, und der kleine Junge in mir denkt, dass sie mich meint und will sich am liebsten in ihre Arme flüchten. Doch als sie auf meinen Vater zutritt begreife ich, dass sie ihn angesprochen hat.

Ein Stein ist hart zu brechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt