Kapitel 54: Noah

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Die Flammen des Herbstfeuers lodern in den sich langsam verdunkelnden Himmel. Ihre Spitzen züngeln dem Abendrot entgegen wie Schlangen. Zum anfeuern haben sie Fichtenreisig genommen, das wirklich lichterloh brennt. Ich verfolge den Flug einzelner glühender Funken, die losgelöst durch die Luft fliegen, als sich neben mich ein großer Mann stellt.
"Das höchste Lagerfeuer der Welt loderte, glaube ich, 2016 bei einer Mittsommerfeier im norwegichen Ålesund. Allein der Holzstapel war damals gigantische 47 Meter hoch!"
Ich muss schmunzeln, weil mich so eine Aussage total an Colin erinnert. Der Mann hat dunkelbraune leicht lockige Haare, die ihm wild um den Kopf wehen. Irgendwie könnte ich mir vorstellen, dass Colin in 20 oder 30 Jahren so ähnlich aussieht.
"Ich bin Philipp Thewes. Ich bin der Vater von Colin. Er wohnt im D-Trackt", sagt er schließlich und reicht mir die Hand zur Begrüßung.
Mein Herz macht einen kurzen Hüpfer. Ich greife nach seiner Hand.
"Ja, ich weiß wer Colin ist. Also, er ist... Ich bin... Ähm... Also ich bin Noah!"
Darauf hebt er kurz erfreut die Augenbrauen.
"Noah! Ha, jetzt freu ich mich, dass ich dich sogar zuerst treffe! So ein Glück habe ich selten. Ich glaube meine Frau hat mich hierher abgeschoben, und ist mit Colin nach oben ins Zimmer. Ich vermute mal, in der Hoffnung, dich zuerst kennen zu lernen."
Er lacht herzlich, und zieht mich in eine etwas umständliche Umarmung. Er hat Falten an den Augen und graue Haare an den Schläfen. Plötzlich merke ich eine eigenartige Art der Sehsucht danach, unbedingt einmal erleben zu dürfen, wie es ist mit Colin älter werden zu dürfen und zu erleben, wie er in diesem Alter aussehen wird.
"Ich liebe Lagerfeuer!", sagt sein Vater freudestrahlend. "Ich war früher bei den Pfadfindern. Hach, das war eine tolle Zeit." Es ist verblüffend, wie ähnlich Colin und er sich sind. Diese offene freundliche Art und das mitunter beinah kindliche grinsen, als hätte er noch immer den Schalk im Nacken. Und er redet eindeutig mehr als ich. Auch da kommt sein Sohn ganz nach ihm.
Plötzlich stupst mich jemand von hinten an.
"Ihr habt euch schon getroffen!" Colin legt für einen flüchtigen Moment seinen Arm an meine Hüfte, und ich wende mich ihm grinsend zu. Neben ihm steht eine Frau mit dunkelblond gelockten Haaren und einem wachen Blick. Sie strahlt mich an, als wäre ich ein Schokokuchen mit Glasur.
"Noah!" Ihre zarten Arme legen sich um mich, und ihre Umarmung ist so durch und durch warm und herzlich. Ein kurzer Schmerz fährt mir in die Magengegend, und ich muss schlucken, um dem aufkeimenden Kloß im Hals Einhalt zu gebieten. Ich merke in diesem Moment, wie lange es her ist, dass meine Mutter mich umarmt hat. Von meinem Vater müssen wir da gar nicht erst reden. Ich habe mal irgendwo ein Goethe Zitat gelesen, das besagte, dass Eltern ihren Kindern Wurzeln und Flügel mitgeben sollten, und ich habe das Gefühl, dass Colin's Eltern das ziemlich gut gelingt. Sie schenken ihm Autonomie, indem sie ihn alleine aufs Internat gehen lassen, aber sie scheinen wie eine Art ewig sicherer Hafen der Heimat zu sein. Ein Ort, an den man, auch wenn deine Welt im Sturm liegt, immer wieder zurück findet.

Ein Stein ist hart zu brechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt