Wir sitzen alle gemeinsam im Aufenthaltsraum unserer Etage. Irgendwie war diese Woche enorm Kräftezehrend. Angefangen bei den Themen aus "Werte und Normen" die wir noch immer behandeln, den Gesprächen von Noah und mir, und dem ganz normalen Trubel, den diese ersten Wochen nach den langen Ferien immer mit sich bringen. Man organisiert vieles, plant Projekte, trifft auf neue Gesichter. Luca hängt inzwischen häufig mit uns rum, und Noah scheint das nicht mehr im geringsten zu stören.
Noch immer überlege ich, wie ich meinen Eltern von Noah erzählen kann. Ich habe einfach das Bedürfnis, es denen zu sagen, die mir wichtig sind. Julia weiß es seit gestern. Noah hat den Vorschlag von sich aus aufgebracht. Und Julia war gar nicht all zu überrascht. Eigentlich, so meinte sie, hatte sie das eh schon im Gefühl, weil die Art, wie wir uns ansehen oder wie zufällig berühren, sich verändert hätte. Mir war das gar nicht bewusst, aber als sie es mir gesagt hatte, erschien es mir nur logisch.
Noah und ich hatten die letzten Tage durchaus immer wieder Momente, in denen wir uns näher gekommen sind. Ich bin froh, dass wir das hier in unserem Tempo machen. Ich wüsste gar nicht, wie weit ich bereit wäre zu gehen. Ich habe einfach keine Erfahrung. Ich weiß, dass ich mit ihm sprechen kann, aber ich weiß selbst nicht über was genau ich eigentlich sprechen will. Ich weiß schon, dass wir eine Bandbreite an Möglichkeiten haben, wenn es darum geht uns körperlich näher zu kommen, und ich weiß, dass ich mir manches gut, und anderes noch gar nicht vorstellen kann.
Ich denke, ich lasse alles auf mich zukommen. Ich fühle mich bei ihm sicher. Das ist vielleicht das wichtigste. Und ich weiß, dass ich sagen kann was mir gefällt, und was ich nicht, oder noch nicht möchte.
"Colin, Telefon!", ruft es ist in dem Moment von draußen. Vermutlich ist das meine Mutter, die auf dem Etagentelefon anruft, das es in jedem Schlaftrackt gibt.
Ich stehe auf, trete in den Flur, nehme das Telefon entgegen und setze mich in die kleine Nische daneben.
"Hallo?"
"Hey, mein Schatz. Wie geht's dir?"
"Alles gut soweit."
"Hast du den Zettel für das Herbstfeuer abgegeben?"
"Ja, hab ich gemacht."
"Papa und ich freuen uns schon. Wie ist das neue Zimmer?"
"Es ist toll. Total gemütlich, ziemlich ruhig und Noah und ich haben unser eigenes Bad."
"Das klingt wirklich toll! Und der Stundenplan? Bist du zufrieden?"
"Ja, da passt alles."
"Habt ihr neue Leute in der Stufe?"
"Ja, ein Neuer. Er heißt Luca und wohnt direkt neben uns."
"Und ist er nett?"
"Ja, doch. Ist er."
"Und wie geht's Julia und Noah?"
Ich schaue vor dem Fenster einem Blatt zu, das durch die Luft tanzt. Ich glaube, der Herbst kündigt sich an.
"Ähm gut. Ja."
"Ja?"
"Hmh."
"Papa und ich sind schon gespannt Noah mal kennen zu lernen? Ihr versteht euch gut?"
Jedes Mal, wenn sie seinen Namen ausspricht, bekomme ich ein eigenartiges Gefühl im Magen.
"Hmhmh."
"Schatz, ist alles okay? Habt ihr zwei Ärger miteinander?"
"Nein." Meine Stimme klingt eigenartig rau.
"Oh Hase, was ist los? Du gefällst mir so nicht. Du klingst irgendwie... Ich weiß nicht."
"Sag doch nicht Hase, Mama", flüster ich leise und sie lacht.
Meine Mum und ich, wir hatten schon immer ein gutes Verhältnis. Es gibt eigentlich keinen Grund für mich Angst zu haben es ihr zu sagen. Und trotzdem bleibt da ein kleiner Zweifel. Eine weit entfernte Stimme, irgendwo in mir drin, die fragt, ob es für sie wirklich in Ordnung wäre. Und im selben Moment frage ich mich, was wäre, wenn nicht.
In meinem Hals wird es plötzlich eng. Und irgendwie fühle ich mich wieder wie ein kleines Kind. Ich muss schlucken und atme tief durch.
"Schatz?", fragt sie leise.
Und plötzlich stiehlt sich eine Träne aus meinem Auge. Einfach weil ihre Stimme so warm klingt, weil ich gerade gerne bei ihr wäre, und weil ich so dankbar für sie bin.
"Mama?"
"Ich bin hier..."
"Also wegen Noah. Er ist für mich mehr als nur ein Freund..."
Ich atme holprig ein. "Also er ist mein Freund. Mein ähm richtiger Freund."
"Oh", sagt sie leise. "Ich wusste nicht, dass..."
"Schon gut Mama." Plötzlich habe ich Angst, dass sie etwas blödes sagt, etwas, das weh tut oder mich verunsichert.
"Schatz?"
"Ja?"
"Ich freu mich für dich. Für euch beide. Und ich freu mich jetzt noch mehr ihn kennen zu lernen."
Eine weitere Träne löst sich und läuft mir über die Wange. Keine Ahnung, warum das jetzt passiert. Ich vermute, die letzten Tage hat sich viel angestaut. Und dass meine Mum mir jetzt liebevoll zuredet bringt das Fass einfach zum überlaufen. Ich hatte vermutet, dass es für sie in Ordnung ist, aber sicher konnte ich trotzdem nicht sein. Ich zieh die Nase hoch, wie ein Baby. Und sie sagt mit einem zarten lachen:
"Oh Hase, hat dir das so auf der Seele gebrannt?"
"Mama! Nun lass doch mal diesen Hase!", sage ich, und beide lachen wir kurz gemeinsam.
"Wir haben es noch niemand groß erzählt. Julia weiß aber Bescheid."
"Okay. Darf ich es denn Papa verraten?"
"Ja."
"Schatz?"
"Hm?"
"Ich hab dich sehr lieb. Und dein Papa auch. Wir lieben dich beide sehr."
"Danke Mama. Ich euch auch."
Nach dem Telefonat gehe ich nicht zurück in den Aufenthaltsraum, sondern in unser Zimmer. Zu erleben, wie so ein Moment ablaufen kann, und mir dann gleichzeitig vorzustellen, wie anders die Erfahrung von Noah in diesem Zusammenhang ist, macht mich besonders traurig.
Immer wieder entwischen vereinzelt Tränen meinen Augen. Ich bin emotional für diese Woche wirklich bedient.
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Ein Stein ist hart zu brechen
RomansaDas ist eine queere Fanfiction zu Colin und Noah aus der kika Serie Schloss Einstein. Man kann die Geschichte aber auch ohne Serienwissen lesen. Noah kam in diesem Schuljahr neu auf das Internat. Er ist ziemlich geheimnisvoll zu Beginn und verschlos...