Kapitel 60: Noah

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"Bei allem Respekt Herr Dr. Zech, aber Sie sind nicht derjenige, der darüber zu bestimmen hat, was mit meinem Sohn passiert! Der Junge ist nicht volljährig, also hat er auch noch kein Aufenthaltsbestimmungsrecht! An dieser Schule scheint man es ja ganz offensichtlich nicht hinzubekommen, Kindern die notwendige Kühnheit mitzugeben!", die Stimme meines Vaters erinnert mich an Donnerschläge, die über dir hineinbrechen.
Meine Mutter sitzt zwischen uns, und rührt sich nicht. Mein Schulleiter hatte uns im Flur abgepasst, wo ich mit meinen Eltern stand, und nun sitzt Dr. Zech uns dreien in seinem Büro hinter seinem Schreibtisch gegenüber. Mir ist kotzübel. Mein ganzer Körper spielt in diesem Moment verrückt. Ich hasse es, dass die Stimme meines Vaters immer noch diese Wirkung auf mich hat. Dass meine Hände eiskalt werden und die Innenflächen ganz feucht. Dass ich mich noch immer fühle wie ein hilfloses Kind in diesen Momenten, und dass ich wünschte, meine Mutter würde mich beschützen.
"Herr Temel, ich kann nachvollziehen, dass Sie sich vergewissern möchten, dass ihr Sohn hier gut aufgehoben ist. Unser Augenmerk am Einstein liegt darauf, alle Kinder an dieser Schule zu begleiten, wie sie sich in kluge, starke und umsichtige Erwachsene entwickeln. Und all das zeigt ihr Sohn. Sowohl im Unterricht, als auch im Miteinander mit anderen. Sie können wirklich sehr stolz auf seine Entwicklung in den letzten Monaten sein. Er wächst zu einem kompetenten und engagierten Mann heran."
Für einen kurzen Augenblick scheint mein Vater etwas ratlos. Als hätte man ihm mitten im Hausbau den Hammer weg genommen und gesagt “Hämmere". Mit wenigen Worten hat der alte Zech ihn elegant seiner Werkzeuge entledigt.
Doch mein Vater wäre nicht mein Vater, wenn er sich damit begnügen würde.
"Das nennen Sie kompetent männlich?", er lacht abfällig.
Ich kenne diese Art von Lachen. Habe es etliche Male schon gehört. Meine Mutter kennt es ebenfalls. Es ist jenes Lachen, das in der Regel folgt, wenn er dich klein macht, dir jegliches Können abspricht, oder sich vor anderen über dich lustig macht. Ich kenne es in und auswendig. Und inzwischen macht es mich nur noch müde, wenn ich es höre. Eigentlich empfinde ich zunehmend Mitleid für meinen Vater.
"Herr Temel, möglicherweise unterscheiden sich die Vorstellungen von manchen von uns darüber. Aber ich kann Ihnen als Pädagoge sagen, dass ich an Ihrer Stelle stolz wäre auf einen Sohn wie Noah."
Ich starre Herrn Zech kurz an. Diese Worte fallen wie in nie gefühlte Tiefen irgendwo in meinem Inneren. In ein bisher unbekanntes Terrain meiner Seele. Unbekannt, weil ich diese Worte so noch nie von jemandem gehört habe.
"Ich an ihrer Stelle wäre voller Neugierde darauf, zu beobachten, was aus ihm einmal wird!" sagt der Zech begeistert.
Meinem Vater scheint dieses Gespräch zunehmend zu entgleiten.
Herr Zech ist beeindruckend smart. Nicht, dass mir das nicht immer klar war, aber jetzt gerade erlebe ich ihn als ungemein raffiniert und trickreich. Er achtet auf seine Worte, wählt sie scheinbar ganz bewusst. Er gendert zum Beispiel plötzlich nicht mehr, sondern spricht von "Kinder" oder "Erwachsene" und nicht von Schüler*innen, weil er sich vermutlich denken kann, dass das für meinen Vater "wokes Geschwätz" darstellt. Und er dreht die eigentlich negativen Aussagen meines Vaters in etwas, das ihm als Vater schmeichelt. Aus einem "mein Kind muss kühner werden" (Was für meinen Vater nichts anderes bedeutet als "machen sie ihn gefälligst weniger schwul"), macht Herr Zech ein "sicher möchten Sie sich nur rückversichern, dass es ihrem Sohn gut geht." Eigentlich schlägt er ihn mit seinen eigenen Waffen: Er manipuliert. Er ist darin nur irgendwie viel geschickter, als mein Vater es je war.
"Ich bin nicht bereit das hier zu unterstützen. So habe ich mir das nicht vorgestellt!", polltert mein Vater los.
Und das ist wohl die Aussage, die ihn in seinem Grundcharakter offen legt. Die Dinge haben so zu laufen, wie er sie sich vorstellt. Das gilt für Arbeitsabläufe bei Gericht genauso wie für Menschen. Eigentlich sollte ich ein dressierter Zirkusaffe sein, der durch brennende Reifen hüpft, wenn man Vater sagt: spring!
"Wie haben Sie es sich denn vorgestellt, Herr Temel?"
Ich kann am Hals meines Vaters die Adern erkennen, die sich wie wütend pochende Flüsse unter der Haut abzeichnen.
"Dass der Junge nach dem Ärger den wir mit ihm hatten, wieder in geraden Bahnen läuft!"
"Also wenn ihre Sorge sein sollte, dass Noah hier keine tollen Fortschritte gemacht hat, sich nicht gut integriert oder nicht fleißig mitarbeitet, dann kann ich Sie beruhigen. All das tut er nämlich."
Der Zech weiß genau so gut wie ich, dass das nicht das ist, was mein Vater gemeint hat. Gleichzeitig will mein alter Herr sich hier aber offenbar auch nicht als der homophobe Arsch offenlegen der er ist.
"Ihr Sohn ist hier willkommen von Anfang an. Ich empfinde ihn als eine kluge Bereicherung, auch in den wissenschaftlichen Fächern. In einigen Tagen wird er sogar für eine Sonderausgabe der Schülerzeitung interviewt. Unsere Schülerredaktion hat nämlich einen journalistischen Nachwuchsförderpreis gewonnen und darf eine Sonderausgabe herausbringen, die dann nicht nur online, sondern auch an zwanzig Standorten in Deutschland in Druck geht. Hach, ich bin ja ein Dinosaurier. Ich liebe einfach noch das gedruckte Wort auf Papier. Ganz die alte Schule."
Clever. Dass Zech sich als alte Schule bezeichnet gibt meinem Vater vermutlich ein Gefühl der Verbundenheit. Alte Werte, konservativer Lifestyle, überholter Zeitgeist. Genau sein Ding.
"Mit etwas Glück, wird auch in ihrer Nähe eine Zeitung verfügbar sein! Andernfalls bemühe ich mich gerne, ihnen postalisch eine zukommen zu lassen."
"Interviewt? Zu was?", fragt mein Vater streng.
"Zum Schulleben. Zu den Plänen die er so für die Oberstufe hat. Wie es ist auf einem Internat zu leben, und wie es ist von zuhause fort zu sein. Solche Dinge eben. Vielleicht finden Sie als Vater ja auch Erwähnung" sagt der Zech fröhlich.
Wow. Also nicht nur, dass er meinem Vater einfach knallhart ins Gesicht lügt, also ja, unsere Schülerzeitung hat tatsächlich gewonnen, aber da ist nirgends ein Interview mit mir geplant. Gleichzeitig setzt er meinen Vater damit gekonnt unter Druck. Denn wenn meinem Vater eines wichtiger ist als die Tatsache, dass sein Sohn Jungs küssen könnte, dann ist es sein Ansehen bei anderen Menschen. Und was wäre wohl los, wenn der angesehene Stafrichter hier ein queerfeindlicher Idiot wäre? Womöglich sogar gegen Grundrechte verstoßen würde! Nicht auszudenken! Ich muss beinah schmunzeln.
Mein Vater ist zum ersten Mal ruhig. Er hat einen ziemlich roten Kopf bekommen, und ich kann sehen, dass er sich von innen in die Wange beißt.
"Ich kann Ihnen beiden versichern, dass wir uns immer bemühen, dass Noah hier einen erfolgreichen Abschluss macht und in eine tolle Ausbildungs- oder Studienzeit starten kann. Das ist doch sicher auch das, was Sie sich als Eltern für Ihren Sohn wünschen?"
Mein Vater atmet scharf ein. Er mag in vielem ein wirklich kaputter Charakter sein. Keine Ahnung, wo das her kommt. Aber eines zumindest ist ihm wichtig: Bildung. Zwar nicht aus den gleichen Gründen wie dem Zech. Es geht meinem Vater hier vermutlich nur bedingt darum, dass ich möglichst viel neues lerne oder kluge Erfahrungen mache. Sondern vielmehr darum, dass er später sagen kann, dass der Junge ein Abitur hat. Mein Vater nickt überraschenderweise kurz, dann steht er auf und schließt elegant das Sakko seines Maßanzugs.
"Wir machen uns nun auf den Weg. Gabi, steh auf." Meine Mutter erhebt sich.
"Junge", er sieht mich nicht an. Wirft mir nur dieses eine Wort vor die Füße und geht. Meine Mutter hebt kurz den Kopf und sieht mich an. Sie legt ihre Hand an meinen Arm, und ich erschrecke mich ein bisschen, als ich spüre dass ihre Hände ebenso kalt sind wie meine. Kurz drückt sie meinen Arm, dann folgt sie meinem Vater, dessen Schritte im Flur nachhallen.

Ein Stein ist hart zu brechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt