Kapitel 25: Noah

1.6K 64 0
                                    

"Alles kann. Nichts muss."
Mit diesem Motto, das habe ich mir vor meiner Abreise vorgenommen, will ich Colin begegnen. Ich will versuchen, mich ihm mehr zu öffnen. Dass ich damit nicht unbedingt gleich gemeint habe, mich vor ihm nackt zu präsentieren, versteht sich vermutlich von selbst. Trotzdem lässt es sich ja nun nicht mehr ändern. Genau das habe ich mir auch gesagt, als er heute früh aus dem Bad geeilt war, als wäre eine Horde Zombies hinter ihm her.
Wir hätten da jetzt ein riesen Ding draus machen können, mit dem wir am Ende den Nachwuchspreis for being awkward gewonnen hätten, aber das wollte ich verhindern.
Nachdem ich also für einen ganz kurzen Moment überlegt habe, ob die Filmszene aus trainspotting, wo der eine Typ einfach in eine Toilette eintaucht und verschwindet, auch im echten Leben funktionieren könnte, habe ich mich der Lage einfach gestellt. Ich habe mir schnell das restliche Duschgel abgewaschen, mir ein Handtuch umgebunden und bin ihm ins Zimmer gefolgt.
Als ich ihn dann auf dem Bett liegen sah, den Kopf in sein Kissen verkrochen, hätte ich ihn am liebsten kurz in den Arm genommen. Es war ihm wirklich peinlich, das konnte man sehen.
Eigentlich hatte ich das Gefühl, dass ich es abschließend ganz gut gelöst hätte. Na gut, ein Fusskuss ist vielleicht nicht die normalste Idee gewesen, aber immerhin hat ihn das vielleicht von unserer morgendlichen Badbegrüssung abgelenkt. Trotzdem geht er mir nun schon den ganzen Tag aus dem Weg. Ich komme in den Aufenthaltsraum, er verschwindet unter der fadenscheinigen Begründung noch etwas erledigen zu müssen. Ich treffe ihn im Flur beim Eingangsbereich und frage ihn etwas, und er schafft es nicht, mir richtig in die Augen zu schauen.

So langsam füllt sich das Einstein immer mehr, und überall wuseln Schüler*innen, Lehrkräfte und Eltern umeinander, sodass es für Colin auch ein leichtes ist, mir aus dem Weg zu gehen.
Erst beim Abendessen treffen wir wieder aufeinander. Der Speisesaal brummt wie ein Bienenstock. Alle sind aufgeregt, es wird wild durcheinander gesprochen, Bilder aus dem Urlaub werden begutachtet und Ferienanekdoten erzählt. Ich höre die meiste Zeit einfach nur zu.
Irgendwann tritt Herr Zech an unseren Tisch. Neben ihm steht ein Junge in unserem Alter. Er hat dunkelblonde längere Haare und eine out of bed Frisur, für die er morgens aber vermutlich 30 Minuten im Bad braucht. Er trägt einen grauen verwaschenen Hoodie, und beißt sich immer wieder auf die doch auffallend vollen Lippen.
"So Luca, das hier ist ein Großteil deiner Klassenkamerad*innen", Herr Zech macht mit seiner Hand eine ausschweifende Bewegung.
"Liebe Leute, das ist euer neuer Mitschüler Luca. Er wechselt von einem Internat am Bodensee zu uns, und ich hoffe, ihr nehmt ihn freundlich in eurer Mitte auf."
Colin schiebt mich auf der langen Bank auf der wir sitzen ein Stück beiseite, sodass der Neue sich ans Ende setzen kann.
"Hey, willkommen am Einstein. Ich bin Colin." Der Reihe nach stellen sich alle vor. "Hi, ich bin Noah."
"Noah und ich wohnen in Zimmer D03. In welchem Zimmer bist du?", fragt Colin ihn. Colin ist vermutlich das beste, was dir passieren kann, wenn du neu an eine Schule kommst. Ich kann das beurteilen. Ich spreche aus Erfahrung. Er hat eine Art dich willkommen zu heißen, die dir deine Aufregung nimmt.
Der neue zieht einen Zettel aus seiner Hosentasche. "Ähm, Zimmer D05."
"Ah, dann bist du direkt neben uns."
Die meisten am Tisch befragen den Neuen nach allen möglichen Dingen, von der Lieblingsmusik (Jojii und Ari Abdul), über Hobbies (skaten) und den ersten Eindruck den er vom Einstein hat (nett). Ich halte mich erst einmal zurück. Die nächsten Tage werden wir uns sicher alle besser kennen lernen.

Ein Stein ist hart zu brechenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt