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Komm schon, geh ran. Mist! Wieder nur die Mailbox. Zähneknirschend lege ich auf. Schon zum dritten Mal habe ich versucht, Pascale zu erreichen. Erfolglos. Ich tippe ein Ruf mich bitte zurück und versende die Nachricht, als mich eine krächzende Stimme zusammenfahren lässt.

„Diese Jugend heudztag... 'n Unding isch des. Ja, genau, 'n Unding!"

Entnervt schließe ich die Augen. Karl-Heinz, um die 70 Jahre, Kettenraucher und (Trommelwirbel, bitte) mein Zimmernachbar.

Als der Pfleger mich in das von Dr. Vega angepriesene Doppelzimmer gerollt hat, habe ich sofort geahnt, dass ich mit Karl-Heinz das ganz große Los gezogen hatte. Vielleicht liegt es an dem Hauch von Zigarettenqualm, der im Zimmer hängt. Oder aber daran, dass er das Hinterteil der Schwester, die mir einen Zugang gelegt hat, mit „fetter Arsch" kommentiert hat. Proll.

Dass Karl-Heinz die Verbitterung auf zwei Beinen ist, ist im Grunde wenig überraschend. Denn schon bald könnte er die Verbitterung auf nur einem Bein sein. Wie ihm seine Ärztin bei der Visite vorhin mitgeteilt hat, könnte er sein linkes Bein verlieren, wenn er nicht sofort mit dem Rauchen aufhörte. Etwas, das ihn herzlich wenig zu interessieren scheint. Kaum hat die Ärztin das Zimmer verlassen, steckt er sich eine Zigarette, die er wer-weiß-wie hier reingeschmuggelt hat, lässig hinters Ohr und zwinkert mir anzüglich zu. Ich verdrehe die Augen, greife erneut nach meinem Handy, um es nochmal bei Pascale zu versuchen.

Diesmal habe ich Glück! 

„Hi, Pascale!", stoße ich erleichtert hervor.

„Hey, Girl. Na, was gibt's? Kommst du doch noch mit zum See?", flötet sie.

Ich seufze. „Daraus wird leider nichts. Mich hat es beim Joggen" – Karl-Heinz tut nicht mal so, als würde er nicht jedem Wort lauschen. „Ich bin umgeknickt", murmele ich. „Ich bin im Marienhospital und werde morgen am Fuß operiert."

„Was?! Du Arme! Ich habe dir doch gleich gesagt, Joggen ist eine Scheißidee." Ich stoße ein bitteres Lachen hervor. „Und du hattest wie immer recht." Ich zögere. „Du, könntest du eventuell bei mir zuhause vorbeischauen und mir ein paar Anziehsachen vorbeibringen? Ich würde morgen ungern in meinen verschwitzen Sportklamotten nach Hause fahren müssen..."

Habe ich schon erwähnt, dass ich es hasse, andere Leute um Gefallen bitten zu müssen? Aber das hier ist eine Ausnahmesituation. Ganz davon abgesehen, war Pascale die einzige Person, die ich in dieser Situation hätte anrufen können.

Karl-Heinz lacht auf und gibt dabei einen grunzenden Laut von sich. „Wäre wirklich besser. Und eine Dusche würde dir auch nicht schaden, Mädchen."

„Weißt du, eigentlich wollte Tom später noch vorbeikommen...", höre ich Pascale zögern. 

Innerlich zucke ich zusammen. Ich habe doch gewusst, dass es eine blöde Idee ist, sie um diesen Gefallen zu bitten. „Klar, verstehe ich, war nur so 'ne Idee–", murmele ich, bis sie mich unterbricht. 

„Ich schaue, dass ich hier rechtzeitig wegkomme und dir deine Sachen bringen kann."

„Danke, du bist die Beste!", rufe ich erleichtert aus. 

„Sag mir etwas, das ich noch nicht weiß", lacht sie. „Dein Ersatzschlüssel liegt noch immer unter diesem grässlichen Ding?" Sie meint die Fußmatte vor meiner Wohnungstür, die schon seit meinem Einzug dort liegt. Darauf ist eine Schildkröte zu sehen. Kitschig? Vielleicht, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht, mich von ihr zu trennen. Sie war das erste, was ich von der Wohnung gesehen habe und erinnert mich irgendwie an ... naja, an mich.

„Unter der Fußmatte", erinnere ich sie.

„Sag' ich doch." 

Ich verdrehe die Augen, gebe ihr noch meine Zimmernummer durch, dann verabschieden wir uns.

Erleichtert, dass es mir zumindest erspart bleibt, morgen in meiner würdelosen Montur von verschwitztem Sportoutfit das Krankenhaus zu verlassen, lehne ich mich im Bett zurück und lasse meinen Blick schweifen. Die Nachmittagssonne fällt durch die Jalousien. Der schwache Duft von frisch gemähtem Gras weht durch das gekippte Fenster, vermischt sich mit dem Geruch von Zigaretten und Desinfektionsmittel. Ich fahre das Muster auf meinem Krankenhausdress nach, in das mir die Schwester vorhin hineingeholfen hat, kurz bevor sie mich mit einem Lappen sporadisch gesäubert hat. Sexy. Genau das richtige Outfit, um jemandem zu beeindrucken. Wen willst du genau beeindrucken?, höhnt die Stimme in meinem Kopf. Ich ignoriere sie. Stattdessen gehe ich die Liste mit all den Dingen durch, die ich morgen noch zu erledigen habe.

Ich unterdrücke einen Fluch. Das Interview mit einer Vorstandsvorsitzenden eines DAX-Konzerns muss bis Montag um 10:00 Uhr auf dem Schreibtisch meiner Chefin liegen. Eigentlich wollte ich mich nach meiner Joggingrunde daran setzen und über die Feinheiten gehen. So wie es jetzt ist kann ich das Interview auf keinen Fall abgeben! Eine Welle der Panik durchflutet mich, die ich durch tiefes Ein- und Ausatmen versuche in den Griff zu bekommen. Keine Panik. Du schafft das, Lena. Ich brauche nur meinen Laptop. Wenn ich schon hier ans Bett gefesselt bin, dann kann ich die Zeit wenigstens für meine Arbeit nutzen.

Ich greife nach meinem Handy und schicke ein Stoßgebet gen Himmel, dass Pascale meine Nachricht noch rechtzeitig liest.

15:22 – Hey, kannst du bitte, bitte auch das Ladekabel von Handy und Laptop mitbringen? Liegt alles unter dem Sofatisch. 1000 Dank – du bist die Beste!

Ich lasse mich zurück in die Kissen sinken und seufze erleichtert. Jetzt gibt für mich nichts mehr zu tun, außer auf Pascale zu warten.

Die Schmerzmittel scheinen langsam zu wirken, die Schmerzen in meinem Fuß haben nachgelassen. 

Ich unterdrücke ein Gähnen.

Höre das monotone Piepen des Überwachungsgeräts.

Das leise Surren der Klimaanlage.

Meine Augenlider werden schwer.

Unendlich müde schließe ich die Augen.

Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt