Die Post raschelt, als ich sie aus dem Briefkasten ziehe. Die Luft ist kalt und feucht, und ein scharfer Wind treibt die letzten Blätter über den Gehweg. Meine Finger zittern leicht, mehr vor Erschöpfung als vor der Kälte, während ich die Briefe sortiere: Werbung, eine Rechnung – und ein Umschlag, der alles in mir erstarren lässt.
Ein Brief vom Landgericht München.
Mein Herz beginnt zu rasen. Ich reiße den Umschlag auf, die Ränder schneiden in meine Haut, aber ich spüre es kaum. Mein Blick fliegt über die Worte, die sich tief in mein Bewusstsein brennen:
Ladung als Zeugin in der Strafsache gegen Erik Brecht wegen versuchter sexueller Nötigung
Ich halte das Papier so fest, dass meine Knöchel weiß hervortreten. Ein dumpfes Rauschen übertönt alles andere. Meine Beine geben nach, und ich lasse mich auf die kalten Stufen vor meiner Haustür sinken.
Erik.
Die Bilder kommen ohne Vorwarnung, ob echt oder aus meinen Albträumen entsprungen, weiß ich nicht: seine Hände an meinem Arm, sein Atem an meinem Hals. Dunkelheit, die sich wie ein Sumpf um mich legt. Mein Herz rast, mein Körper ist wie gelähmt, und alles, was ich tun kann, ist... nichts.
Ich blinzle und finde mich wieder auf der kalten Treppe, den Brief in meinen Händen. Ich schüttele den Kopf, als könnte ich die Bilder abschütteln. Doch sie sind da, immer da, und sie flüstern mir zu, dass ich nie wieder ganz frei sein werde.
Genau deshalb muss ich gegen ihn aussagen – für mich, für jede andere Frau, die nicht so viel Glück hatte wie ich. Aber die Vorstellung, ihm wieder gegenüberzustehen, ihm in die Augen zu sehen, seine Stimme zu hören... Mein Magen zieht sich zusammen, und Übelkeit steigt in mir auf.
Und dann ist da noch Elias.
Ich presse die Hände gegen meine Schläfen. Natürlich wird er dort sein, als Zeuge. Er war derjenige, der Erik aufgehalten hat. Der dafür gesorgt hat, dass er festgenommen wurde. Ohne ihn wäre ich vielleicht... Ich schüttele den Kopf, weigere mich, den Gedanken zu Ende zu denken.
Elias.
Allein sein Name schmerzt.
Das letzte Treffen... es war der endgültige Beweis dafür, dass wir nicht funktionieren. Ich habe ihm vertraut. Ich habe geglaubt, dass ich bei ihm sicher bin. Und trotzdem hat er mich verletzt. Nein, nicht verletzt, zerbrochen. Ich bin zerbrochen. Und Pascale... Ich weiß nicht, welcher Verrat mich mehr trifft. Der Gedanke an die beiden... Ich erschaudere.
Fünf Tage.
Fünf Tage und keiner von beiden hat sich bei mir gemeldet. Als wäre es ihnen egal ist, dass sie mich als Scherbenhaufen zurückgelassen haben. Dass ich nun Monate, vielleicht sogar Jahre damit beschäftigt sein würde, den Scherbenhaufen zusammenzusetzen.
Heiße Tränen steigen mir auf. Ich schließe die Augen, atme tief ein, tief aus. Selbstmitleid bringt mich nicht weiter. Es bringt niemanden weiter.
Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche. Mein Blick bleibt auf seinem Namen hängen, immer noch weit oben in der Chatliste.
Und weil ich offenbar masochistisch veranlagt bin, scrolle ich durch unsere Nachrichten, lese die Flirtereien, die kleinen Neckereien, die damals so viel Bedeutung hatten. Es tut weh, aber nicht so sehr, wie ich erwartet habe. Es gibt nichts mehr zu zerbrechen. Also beginne ich zu tippen:
Elias, ich weiß nicht, warum ich dir schreibe. Vielleicht, weil ich immer noch versuche zu verstehen, was zwischen uns passiert ist. Vielleicht, weil ein Teil von mir nicht akzeptieren will, dass es wirklich so endet.
Ich dachte, mit dir hätte ich etwas wiedergefunden, an das ich schon lange nicht mehr geglaubt habe. Das Gefühl, dass ich bei dir ich selbst sein darf, ohne Angst, nicht genug zu sein. Ich habe mich sicher gefühlt. Ich habe dir vertraut. Mehr als irgendwem sonst. Ich habe mich für dich entschieden, Elias. Und du hast mir weh getan. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Tatsache, dass ihr etwas miteinander hattet, oder dass ihr mich angelogen habt.
Aber die Wahrheit ist auch: Ich vermisse dich, jeden Tag. Vielleicht bin ich naiv. Vielleicht mache ich mir nur etwas vor. Aber ein Teil von mir wünscht sich immer noch, dass wir einen Weg gefunden hätten. Dass das alles nicht das Ende sein muss.Ich lese die Nachricht durch. Noch einmal. Und noch einmal.
Mein Daumen schwebt über dem „Senden"-Button.
Aber ich drücke ihn nicht.
Ich kann nicht.
Stattdessen lösche ich die Nachricht. Buchstabe für Buchstabe.
Eine Träne löst sich, rollt über meine Wange. Ich wische sie hastig weg und stecke das Handy wieder ein. Vielleicht ist es besser so.
Ich nehme den Brief und falte ihn ordentlich zusammen. Die Worte darauf sind unveränderlich, egal wie sehr ich sie zu ignorieren versuche.
Ein kalter Windstoß fährt mir durch die Haare, und ich erschaudere. Die Welt fühlt sich leer an, der Himmel grau, als würde er all die Farben verschlucken. Doch irgendwo in dieser Leere, tief verborgen, glimmt ein Funken Entschlossenheit. Ich werde Erik gegenübertreten. Und Elias. Und ich werde es schaffen. Ich werde mutig sein.
Ich stehe langsam auf, stecke den Brief in meine Tasche und gehe ins Haus. Es ist Zeit, sich der Realität zu stellen.
Denn auch wenn die Narben bleiben – vielleicht gibt es irgendwann eine Zukunft, in der sie nicht mehr schmerzen.
Es ist nur ein Schritt, aber ich mache ihn.
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Between Heartbeats
Romance***Band 1 abgeschlossen*** Lena dachte, mit 25 hätte sie ihr Leben im Griff - falsch gedacht. Ein Jogging-Unfall bringt sie nicht nur ins Krankenhaus, sondern mitten in eine Achterbahn der Gefühle. Elias, der arrogante, aber faszinierende Assistenza...