Z w ö l f

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Der Wecker klingelt. Ich fahre ruckartig hoch, blinzele verschlafen – und grinse. Kein Karl-Heinz weit und breit. Gestern Nacht habe ich es gerade noch geschafft, drei Stücke Pizza zu verdrücken, bevor ich auf dem Sofa in einen tiefen und traumlosen Schlaf fiel.

Ich gähne und greife nach meinem Handy, als plötzlich ein stechender Schmerz durch mein Bein schießt. Alle Müdigkeit verfliegt auf einen Schlag.

Ach, richtig. Da war ja was.

Langsam bewege ich das Bein – ein brennendem Schmerz jagt mir bis in die Zehen. Ich beiße die Zähne zusammen. Okay, ich brauche dringend Schmerzmittel. 

Vorsichtig setze ich mich auf und schaue auf mein Handy. 8:01 Uhr. Noch knapp zwei Stunden bis zur Abgabe meines Artikels, und ich muss mindestens noch einmal Korrektur lesen. Und Nadine schreiben, dass ich die nächsten Tage im Home-Office arbeiten werde. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich weiß genau, was meine Chefin vom Home-Office hält: Faulheit. Desinteresse. Keine Ambition. Doch allein bei dem Gedanken daran, mich mit meinen Krücken zwei Stockwerke herunter, zur U-Bahn-Station und ins Büro zu kämpfen... Ein Schauder läuft mir über den Rücken. Keine Chance. Ich schaffe es ja nicht einmal, mich auf meinen 26 Quadratmetern ohne Stolpern zu bewegen.

Mit einem Ächzen humpele ich in den Flur, ziehe meinen Laptop aus der Reisetasche und setze mich wieder auf das Sofa. Ich tippe die E-Mail an Nadine, halte kurz inne. Mit einem schlechten Gewissen und dem dumpfen Gefühl, in meinem Job versagt zu haben, drücke ich auf Senden. Mit grimmiger Entschlossenheit mache ich mich ans Korrekturlesen. Der Artikel muss gut – nein, herausragend – werden!

Ich arbeite konzentriert, stelle Sätze um, verschiebe Wörter, vergesse den Schmerz. Die Zeit vergeht wie im Flug. Um 9:49 Uhr sende ich den fertigen Artikel ab. Erleichtert atme ich auf, mein Pyjama-Oberteil klebt vor Schweiß an meiner Haut. Und der Schmerz ist zurück, er pocht in meinem Bein. Ich humpele ins Bad und finde eine alte Packung Ibuprofen. Mit zitternden Händen spüle ich eine Tablette mit Leitungswasser herunter und warte darauf, dass das Pochen nachlässt.

Zurück am Laptop arbeite ich meine Mails ab, als plötzlich eine Nachricht von Nadine aufploppt. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Nervös öffne ich die Mail.

Wenn du meinst, dass es das Richtige für deine Karriere ist. Bisher habe ich große Stücke auf dich gehalten.

VGN

PS: Gute Arbeit mit dem Interview.

Während ich die Worte lese, schwappt eine Welle aus widersprüchlichen Gefühlen über mich hinweg: Frustration – weil ich sie enttäuscht habe. Erleichterung – weil ihr der Artikel gefällt. Stolz – weil ich es trotz des Höllentrips am Wochenende doch irgendwie geschafft habe. Und Entschlossenheit. Ich werde ihr zeigen, dass ich alles werde. 110 Prozent. Mindestens.

OhneMittagspause arbeite ich weiter, beantworte E-Mails, recherchiere, schreibe. Ich unterbreche meine Arbeit nur, um eine Tüte voller Lebensmittel von einem Lieferanten mit Fahrradhelmentgegenzunehmen. Ich schmiere mir gerade ein Käsebrot, als mein Handy klingelt.

Erleichterung durchströmt mich. Es ist nicht Nicole.

„Hey, Pascale!" 

„Hey, Girl! Du wolltest dich doch melden. Alles okay bei dir?" Sie klingt vorwurfsvoll.

Ich blicke auf die Uhr. 18:13 Uhr. Schon?! „Oh, tut mir leid, ich habe die Zeit total vergessen." 

„Pass bloß auf, dass du keinen Burnout bekommst. Der Pitbull treibt dich noch ins Grab." Pascale kennt meine Chefin zwar nur vom Sehen, aber in der Marketingabteilung nennt sie jeder nur „den Pitbull".

Ich wechsele schnell das Thema und lasse sie von Tom erzählen, der ihr heute Blumen ins Büro geschickt hat – als Entschuldigung. Ich gebe mein Bestes, zuzuhören, doch mein Kopf fühlt sich an wie in Watte gepackt. Nach einer halben Stunde ist sie zufrieden. Wir verabreden uns für Freitag zum Weintrinken (naja, sie wird Wein trinken – ich werfe der Packung Ibuprofen aufdem Couchtisch einen bösen Blick zu), dann verabschieden wir uns.

Gerade als ich die letzte Mail beantworten will, klingelt das Handy erneut. Nicole. Vielleicht sollte ich sie ignorieren. Aber das würde das Unvermeidbare nur hinauszögern. Mit einem tiefen Atemzug nehme ich ab.

„Na endlich! Warum gehst du denn nicht ran? Ich habe dich gestern schon dreimal angerufen", lautet ihre liebevolle Begrüßung. 

Ich schneide eine Grimasse. „Dir auch hallo." Sie schnaubt.

„Also?", frage ich. „Was gibt's so Dringendes?"

„Mama braucht uns am Wochenende beim Sommerleuchten. Ich kann schließlich nicht immer diejenige sein, die allein für die Familie da ist, während du –" Sie unterbricht sich.

Das Sommerleuchten. Scheiße. Das habe ich total vergessen.

Das Sommerleuchten findet jedes Jahr im August statt – es ist das Highlight in unserem 2.300-Seelendorf. Es gibt Essen, Live-Musik und alle Läden machen mit. Auch das Schuhgeschäft meiner Mutter fährt an diesem Tag groß auf mit den legendären Waffeln nach dem alten Ritter'schen Familienrezept. Als Kinder gab es für Nicole und mich nichts Schöneres, als dabei mitzuhelfen. Doch seit ein paar Jahren meide ich das Fest – aus Gründen. Nicole setzt das auf die lange Liste der Dinge, die sie mir zum Vorwurf machen kann.

„Das soll wirklich nicht wie eine dumme Ausrede klingen, aber ich habe mir den Fuß gebrochen." 

Stille. Dann: „Ach, ja? Und wann soll das passiert sein?" Sie klingt zweifelnd.

„Vorgestern, wenn du es genau wissen willst. Beim Joggen."

Ein amüsiertes Schnauben. „Du und Joggen?"

„Ja, verdammt. Ich wollte eben was Neues ausprobieren", presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Schon gut. Du kannst die Kasse übernehmen, ich kümmere mich um den Waffelstand."

Ich blinzele perplex. „Nicole, ich kann nicht mal allein die Treppen runter. Geschweigedenn mit einem Koffer zum Bahnhof –"

„Passt doch perfekt, dass ich dich Freitag mit dem Auto abhole." 

Damit nimmt sie mir den Wind aus den Segeln. Ich unterdrücke ein Stöhnen. Das wird ja immer besser.

„Und warum?" Misstrauen schwingt in meiner Stimme.

„Ich habe ein Bewerbungsgespräch in München."

Boom. Und so einfach lässt sie die Bombe platzen.

„D-du? In München?", stammele ich atemlos.

„Vielleicht." Sie klingt beleidigt. Ist sie ernsthaft eingeschnappt, dass ich bei dieser Nachricht nicht vor Begeisterung an die Decke hüpfe? In welcher Parallelwelt lebt sie? „Diese Woche habe ich das letzte Gespräch mit der Pflegedirektion. Wenn alles nach Plan läuft, kann ich schon im Herbst anfangen", fährt Nicole ungerührt fort.

„Aber warum München?" Meine Stimme klingt schrill in meinen Ohren.

„Nach allem, was du immer so erzählst, scheint München ja wirklich der perfekte Ort für einen Neuanfang zu sein." Was denn erzählt? Wenn sie die letzten Jahre aufgepasst hätte, wäre ihr aufgefallen, dass ich mit meiner Familie so gut wie nie über meine neue Heimat spreche – besonders nicht, wenn ich keine neuen Vorwürfe riskieren will.

Mein Kopf dreht sich. München ist eine Millionenstadt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns zufällig über den Weg laufen, geht gegen null. Aber allein zu wissen, dass sich Nicole in derselben Stadt aufhält... Ein bitterer Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Es fühlt sich an, als würde sie mir damit etwas wegnehmen. Schon wieder.

„Ich schätze, dann sehen wir uns am Freitag." Meine Stimme ist tonlos.

„Bis Freitag. Ich schreibe dir noch die genaue Uhrzeit, wenn ich da bin."

Als sie auflegt, schließe ich die Finger so fest um mein Handy, dass meine Knöchel weiß hervortreten. Das sind ja wirklich tolle Neuigkeiten.

Ich Glückspilz.


Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt