S e c h z e h n

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„Kannst du mir bitte das Nutella geben?", sage ich an Nicole gewandt und schaue sie erwartungsvoll an.

Die vier Familienmitglieder der Familie Ritter sitzen an diesem Sonntagmorgen versammelt am Frühstückstisch. Fast so wie früher, schießt es mir durch den Kopf. Es ist geradezu trügerisch friedlich.

Nicole grinst breit und schiebt das Nutellaglas noch weiter von mir weg. „Hey!", murre ich und verziehe das Gesicht. Ich bin wirklich kein Morgenmensch – und wenn mir Nutella vorenthalten wird, verstehe ich keinen Spaß. Nicole lacht, schiebt das Glas dann aber über den Tisch in meine Richtung. Ich fange es ab, halbwegs geschickt für meine Verhältnisse, und mache mich daran, mein Körnerbrötchen zu bestreichen (natürlich ohne Butter). Meine Eltern blicken überrascht zwischen uns hin und her. So unbeschwert haben sie uns schon lange nicht erlebt.

„Wann fängt dein neuer Job eigentlich an?", frage ich beiläufig. „Vorausgesetzt, du bekommst den Job." Ich nehme einen großen Bissen von meinem Brötchen und bereue sofort, das Thema angeschnitten zu haben. Meine Mutter macht ein verkniffenes Gesicht, während mein Vater plötzlich sehr damit beschäftigt ist, die richtige Menge Zucker in seinen Kaffee zu geben.

Nicole wirft mir einen funkelnden Blick zu. „Am 15. September. Und ja, ich werde den Job bekommen."

„Vielleicht kennst du's ja", durchbricht Nicole die angespannte Stille.

„Was denn?" 

„Na, das Krankenhaus, in dem ich bald arbeiten werde." Ich lache trocken. „Das glaube ich kaum. Ich verstehe gar nicht, wie du darauf kommst. Mein Fuß übrigens auch nicht." Nicole verdreht die Augen. „Ob du's glaubst oder nicht, das war mein erster Krankenhausaufenthalt in München", verteidige ich meine Ungeschicklichkeit. Und hoffentlich der Letzte.

„Das Marienhospital soll ziemlich bekannt sein", fährt Nicole unbeirrt fort. „Allein der Name klingt viel professioneller als Friedberger Waldkrankenhaus." Sie zieht eine Grimasse. „‚Eins mit der Natur' ist wirklich ein beschissener Slogan für ein Krankenhaus."

Ich verschlucke mich an meinem Brötchen und huste heftig. 

„Alles gut, Lena?", fragt Nicole besorgt.

Ich nehme einen großen Schluck Kaffee. Mein Hals fühlt sich plötzlich furchtbar trocken an. „Ja, alles gut", antworte ich heiser. „Marienhospital ... heißt auch das Krankenhaus, in dem ich letzte Woche war", füge ich lahm hinzu.

„Was ist das denn für ein krasser Zufall?! Du musst mir alles erzählen!", ruft Nicole aufgeregt. „Das ist ja toll", mischt sich auch meine Mutter ein. „Vielleicht kennst du schon Nicoles zukünftige Kolleginnen."

Ich verdrehe die Augen. Können wir vielleicht erst abwarten, ob Nicole den Job überhaupt bekommt?

„Das ist total sexistisch, Mama. Ich werde nicht nur weibliche Kolleginnen haben, es gibt auch viele männlichen Pfleger." Meine Mutter hebt abwehrend die Hände, und wendet sich dann wieder mir zu: „Jetzt sieh uns doch nicht so entgeistert an, Lena. Es ist doch großartig, dass du den Arbeitsplatz deiner Schwester schon kennst."

„Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Wie sind die Leute so?", drängelt Nicole.

„Sehr freundlich." Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Es fühlte sich verkrampft an. Absehen von gewissen Assistenzärzten ... Die Krankenschwester, die mir das Ladekabel organisiert hat – Theresa Lohmeier – sie war wirklich nett. Auch wenn sie damit das Chaos erst ins Rollen gebracht hat... 

„Und die Ärzte?" Verschwörerisch zwinkert sie mir zu. Mein Vater räuspert sich laut. „Höchste Zeit, das Geschirr abzuräumen", sagt er und ergreift die Flucht in die Küche. Ich wäre ihm nur zu gerne gefolgt.

Nicole beugt sich zu mir herüber und flüstert: „War jemand heißes dabei?" Wenn du wüsstest...

Ich erspare mir die Antwort und nehme stattdessen einen großen Schluck Kaffee

„Man wird doch wohl noch fragen dürfen", sagt Nicole mit einem Grinsen. „Ich bin schließlich lange genug Single."

Ich unterdrücke ein Seufzen. Nicoles Glaube an die wahre Liebe ist unerschütterlich, egal wie viele Rückschläge sie erlitten hat. Was ist aus der verletzlichen Nicole von gestern geworden, die noch immer unter der Trennung von dem Penner leidet? Bei dem Gedanken an meine Schwester im Marienhospital ...

Ich spüre ein unangenehmes Ziehen im Bauch. Ich gebe ihr eine Woche in dem Laden, und sie wird mindestens genauso zynisch sein wie ich.

„Du übrigens auch." Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Meine Mutter, die Verräterin, pflichtet ihr nickend bei. Warum habe ich mich nochmal gefreut, Nicole in München um mich zu haben?

Nach dem Frühstück packe ich meine Tasche. Mit einem stillen Abschiedsgruß lasse ich meinen Blick ein letztes Mal durch mein altes Kinderzimmer schweifen, bevor ich schließlich die Treppe hinunterhumpele.

„Und du bist sicher, dass ich dich nicht doch den ganzen Weg nach München fahren soll?", fragt Nicole noch einmal, als ich unten ankomme.

Dieses neue Verhältnis zwischen uns ist immer noch ungewohnt. „Danke, aber zum Bahnhof reicht. Der Zug fährt direkt nach München. Ich nehme dann einfach ein Taxi vom Bahnhof."

Sie wirft einen zweifelnden Blick auf meine Krücken und zögert. „Na gut. Steig schon mal ein. Ich nehme deine Tasche."

Ich lasse mich von meinen Eltern nochmal fest in den Arm nehmen. „Sei bitte vorsichtig und pass gut auf dich auf", sagt meine Mutter zum Abschied und tätschelte meine Wange.

„Ja, Mama."

„Und wenn Nicole nach München ziehen sollte, kommt ihr öfter zu Besuch, ja?" Ich presse die Lippen zusammen und nicke stumm.

„Wir haben dich lieb, Lena.", sagt mein Vater, als auch er mich fest umarmt.

„Ich euch auch, Papa." Es ist die Wahrheit. Wenn auch auf eine seltsam verquere Art.

Und dann kann ich endlich ins Auto flüchten.

Ich hasse Verabschiedungen. Vor allem, wenn die Situation so verfahren ist wie bei uns. Natürlich liebe ich meine Eltern, und sie lieben mich. Was aber nicht heißt, das unser Verhältnis einfach ist. Immerhin haben sie mit Nicole eine Tochter, die das Leben führt, das sie sich für uns gewünscht haben. So kann ich als ewige Enttäuschung der Familie zumindest meinen eigenen Weg gehen. Aber jetzt, wo auch Nicole nach München ziehen könnte, frage ich mich, was das für uns alle bedeutet. Werden unsere Eltern auch von ihr enttäuscht sein? Oder werden sie endlich lernen, uns beide loszulassen – so, wie wir es vielleicht längst gebraucht hätten?

Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt