A c h t u n d v i e r z i g

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„Setz dich." Nadine deutet auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Sie wirkt müde, angespannt. Meine Beine fühlen sich an wie Gummi, als ich mich langsam auf den Stuhl sinken lasse. Mein Magen verkrampft sich, doch ich konzentriere mich auf meine Atmung. Einatmen. Ausatmen. 

„Also." Sie faltet die Hände zusammen und sieht mich unverwandt an. „Wir haben zwei Optionen, Lena."

Ich nicke kaum merklich, doch fokussiere mich weiter auf meine Atemübung. 

Ein. Aus.

„Die erste Möglichkeit", fährt sie fort, „ist eine außergerichtliche Einigung. Sein Anwalt hat signalisiert, dass Kessler bereit ist, den Strafantrag zurückzunehmen – vorausgesetzt, du gibst eine Erklärung ab, dass deine Anschuldigungen unbegründet waren." Ihre Stimme bleibt ruhig, und ihre eisblauen Augen suchen meine. „Ein öffentlicher Widerruf."

„Und die zweite?" Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren.

„Du kämpfst." Nadine lehnt sich zurück, ihre Finger tippen leise gegen die Schreibtischkante. „Das bedeutet, wir gehen vor Gericht. Du riskierst, dass Kessler mit all seinen Ressourcen auf dich losgeht. Und selbst wenn das Gericht dir Recht gibt, könnte es eine mediale Schlammschlacht werden."

Ich presse die Lippen zusammen, während sich meine Gedanken überschlagen. Wenn ich mich für den Widerruf entscheide, setze ich meine Integrität als Journalistin aufs Spiel. Ich würde alles verraten, wofür ich stehe. Nicht nur mich selbst, sondern auch all die Frauen, die mir ihre Geschichten anvertraut haben. Und wenn ich mich entscheide, vor Gericht zu gehen, gewinne ich – vielleicht –, aber Kessler zieht meinen Namen vor der Presse durch den Dreck. Ich schlucke schwer. Eine Lose-lose-Situation.

„Was würdest du tun?" frage ich leise.

„Ich kann dir diese Entscheidung nicht abnehmen, Lena." Ihre Stimme ist sanft, aber bestimmt. „Nur so viel: Es geht hier nicht nur darum, was einfacher ist oder was richtig erscheint. Es geht darum, womit du leben kannst."

Womit ich leben kann...

Womit kann ich leben? Kann ich mit der Lüge leben, dass ich Kessler Unrecht getan habe? Mit der Vorstellung, dass er weitermachen könnte wie bisher, ohne Konsequenzen? Oder kann ich leben mit der Aussicht, dass er mich vor aller Welt als Lügnerin anprangert, wenn ich mich wehre?

„Lena." Nadines Stimme holt mich zurück. „Ich weiß, dass das beängstigend ist. Aber egal, wofür du dich entscheidest – der Verlag steht hinter dir. Ich stehe hinter dir."

Ihre Worte sollten mich beruhigen, aber sie tun es nicht. Nicht wirklich. Stattdessen ringen in mir Angst und Trotz. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Es ist eine Entscheidung, die den Rest meiner Karriere bestimmen wird. Oder sie beenden könnten, bevor sie richtig angefangen hat. Dann hätten meine Eltern doch Recht behalten...

Ich denke an all die Male, die ich den einfacheren Weg gewählt habe. Die Male, in denen ich Dinge heruntergeschluckt habe, weil ich dachte, es wäre leichter, einfach nicht hinzusehen. Pascale. Elias. Und jetzt Kessler.

„Du musst dich nicht sofort entscheiden, Lena. Schlaf ein paar Nächte drüber."

„Wenn ich mich entscheide, zu kämpfen – was passiert, wenn ich verliere?" Meine Stimme zittert ein wenig, aber ich halte Nadines Blick stand.

„Dann verlierst du vielleicht den Fall", sagt Nadine, ihre eisblauen Augen mustern mich einen Moment, bevor sie weiterspricht: „Aber du verlierst nicht dich selbst."

Ihre Worte treffen mich tief. Es geht nicht darum, ob ich gewinne oder verliere. Es geht darum, ob ich mich selbst noch im Spiegel ansehen kann.

Ich schließe die Augen, atme tief durch und spüre, wie sich der Knoten in meiner Brust löst. Eine seltsame Klarheit breitet sich in mir aus, und plötzlich weiß ich genau, was ich tun muss.

Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt