V i e r z e h n

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Die Münzen klirren leise, als ich die Fünfzig- und Zwanzigcentstücke in die Kasse sortiere. Kurz darauf klingelt die Ladentür, und ich beobachte, wie Susanne, eine alte Freundin meiner Mutter, den Laden verlässt. Ein erschöpftes Seufzen entweicht mir. Seit fast drei Stunden sitze ich hier hinter dem Tresen, und die Müdigkeit sitzt tief in meinen Knochen.

Heute Morgen ging es schon früh los. Mein Vater und ich haben Berge von Waffelteig angerührt und Thermoskannen mit Filterkaffee befüllt. Währenddessen waren Nicole und meine Mutter bereits im Laden, um alles vorzubereiten. Jetzt stehen Nicole und ich hinter dem Verkaufstresen, und meine Eltern wechseln sich zwischen Lager und Kundenbereich ab. Und auch wenn Nicole mir einen Stuhl organisiert hat, merke ich, wie sich ein schmerzhaftes Kribbeln in meinem Fuß ausbreitet.

„So, Zeit für eine kleine Pause! Die habt ihr euch verdient!", ruft meine Mutter gut gelaunt und klatscht fröhlich in die Hände.

Nicole schnappt sich sofort ihre Handtasche, die sie hinter dem Tresen verstaut hatte. „Ich mach 'ne Runde über den Marktplatz und schau bei den anderen Ständen vorbei. Rudi hat bestimmt schon den Weinausschank geöffnet", sagt sie und grinst breit.

Meine Mutter verzieht das Gesicht. „Ich muss meine Kunden nicht abfüllen, damit sie was bei uns kaufen", erwidert sie spitz. „Es ist gerade mal 14 Uhr."

„Na und? Heute ist doch fast sowas wie ein Feiertag."

„Solange ihr mir nicht die Kasse durcheinanderbringt, soll's mir recht sein", seufzt meine Mutter. Nicole dreht sich zu mir. „Kommst du mit, Lena?"

„Nee, lass mal", winke ich ab. „Ich setze mich lieber kurz hin." , sage ich, auf dem Stuhl sitzend. „Um den Fuß hochlegen", füge ich lahm hinzu. In Wahrheit macht mir weniger mein Fuß zu schaffen als der Smalltalk mit den Cleebergern. 

In Cleeberg gibt es zwei Kategorien von Leuten. Kategorie 1, zu der auch Susanne gehört, sind Bekannte meiner Eltern, die hier in der Gegend aufgewachsen sind. Man kennt sich. Und trotzdem (oder gerade deshalb) muss ich immer wieder die gleichen Fragen beantworten: Was machst du seit dem Studium? Warum bist du so selten zu Hause? Und mein persönlicher Favorit: Schon wieder ohne Begleitung hier? Es ist die Inkarnation meines persönlichen Albtraums. Nicole hat es da leichter. Jeder weiß, dass sie im Friedberger Krankenhaus arbeitet. Von ihren Plänen, nach München zu ziehen, hat sie offenbar niemandem erzählt.

Dann gibt es noch Kategorie 2: alte Bekannte oder Schulfreunde, die wissen, was damals passiert ist. Ihre Blicke wandern abschätzig zwischen Nicole und mir hin und her. Nein, in Cleeberg vergisst man nicht, wenn die eine Schwester der anderen den Freund ausspannt.

„Wie du meinst", reißt mich Nicole aus den Gedanken, zuckt mit den Schultern und zieht ab.

Erschöpft humpele in den angrenzenden Lagerraum. Ich lasse mich auf einen alten Klappstuhl sinken, lege meinen Fuß auf einen Stapel Kartons und nippe an meinem Becher Kaffee. Endlich kann ich wieder atmen, abgeschirmt von neugierigen Blicken. Meine Mutter hat meinen Platz übernommen und bedient die Kunden. Ihre Verkaufsstrategie besteht darin, sie mit Komplimenten zu überhäufen: Lisas neues Sommerkleid, der neue Freund von Kira, das abgeschlossene Studium von Martin...

Wenn sie nur einmal so über mich sprechen würde.

Die Tür läutet erneut, und von draußen weht Jazzmusik herein. Meine Mutter begrüßt die neuen Kunden freundlich.

„Hallo."

Ich zucke zusammen und verschütte beinahe meinen Kaffee. Mein Herz schlägt bis zum Hals, als ich mich abrupt in die Richtung der Stimme drehe. Obwohl ich nichts sehen kann, erkenne ich ihn sofort – wie könnte ich auch nicht?

Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt