Die Nacht war die reinste Hölle. Das lag zum einen an Karl-Heinz omnipräsenten Geschnarche, das meine Kreativität und Konzentration nicht gerade förderte. Ich tippte und tippte, bis ich bei einem Akkustand von 3 Prozent erschöpft und frustriert den Laptop zuklappte.
Und dann war da natürlich noch die OP morgen. Immer wenn mich die Panik zu übermannen drohte, schloss ich die Augen, machte meine Atemübungen. Es lag alles an diesem verdammten Ort.
Irgendwann muss ich doch eingenickt sein.
Das Summen meines Handys lässt mich hochfahren. Blinzelnd greife ich danach. Eine E-Mail von meiner Chefin. An einem Sonntag. Um 6:38 Uhr.
Ist das Interview schon fertig? Ich muss dich nicht daran erinnern, wie wichtig es für deine Karriere ist. Vielleicht sogar etwas für die Titelseite. Ich verlasse mich auf dich.
VGN
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Einerseits fühle ich mich geehrt, dass Nadine, meine Chefin, anscheinend so sehr an meinen Artikel glaubt, dass sie ihn sogar für die Titelseite in Betracht zieht. Andererseits wirkt ihre Aussage (um 6:38 Uhr!) fast wie ein versteckte Drohung. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn ich das Interview nicht pünktlich abliefere. Nein, das ist defintiv keine Option!
An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Die Morgendämmerung taucht das Krankenzimmer in ein sanftes Licht. Ein fast schon friedlicher Anblick, der so gar nicht zu meiner inneren Aufgewühltheit passt.
Ich schaue nun schon zum vierten Mal in 10 Minuten auf mein Handydisplay. Wann kann es endlich losgehen? Damit ich endlich nach Hause und mich dort den wirklich wichtigen Dingen widmen kann. Meiner Arbeit.
Ich seufze. Um mich abzulenken, entsperre ich mein Handy erneut, scrolle gedankenverloren durch meine Bildergalerie.
...Pascale und ich auf einem Tretboot...
...mein Bücherregal, natürlich nach Farben sortiert...
...meine noch leerstehende Wohnung...
Das Foto habe ich aufgenommen, unmittelbar nachdem mir meine Vermieterin die Schlüssel übergeben hat. Bei dem Gedanken an meinen sicheren Hafen muss ich lächeln. Und würde eine Niere dafür geben, jetzt in meinem eigenen Bett zu liegen.
Ich scrolle weiter.
Und bleibe bei einem Bild hängen.
In einem Anflug von Nostalgie habe ich letzte Weihnachten durch die Seiten eines verstaubten Familienalbums geblättert und dabei dieses Analogbild entdeckt. Und es dann mit meinem Handy abfotografiert.
Darauf sind Nicole und ich als Kinder zu sehen, sie ist zehn und ich gerade sieben Jahre alt. Arm in Arm stehen wir im Garten unseres kleinen Ferienhäuschens in Holland. Beschützend hat Nicole einen Arm um mich gelegt und zeigt stolz auf das Kunstwerk in meinem Gesicht. Schwarze und rote Farbkleckse, die einen Marienkäfer darstellen sollen. Nicole selbst hat sich auf dem kleinen Stadtfest für die Tigerbemahlung entschieden.
Warum ich genau dieses Foto abfotografiert habe? Vielleicht quäle ich mich einfach selbst gern. Ich schneide eine Grimasse. Die Erinnerung ist irgendwie traurig und schön zugleich. In diesem kleinen Ferienhäuschen liegen meine schönsten Erinnerungen. Ein Ort, an dem meine kleine Welt in Ordnung war. Und ich zu jung, um zu realisieren, was für eine große Enttäuschung ist doch für meine Eltern bin. Wenn mir jemand nur ein paar Jahre früher erzählt hätte, dass ausgerechnet Nicole es sein würde, die mir meinen Freund ausspannt... Ich schnaube.
Ich schätze, das Foto erinnert mich an all das, was sich seitdem verändert hat. Was ich verloren habe. Als meine Eltern das Haus vor sieben Jahren verkauft haben, hat es nicht einmal wehgetan. Viel mehr hätte es geschmerzt, als "Familie" an den Ort zurückzukehren, obwohl wir alles andere waren als das.
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Between Heartbeats
Romance***Band 1 abgeschlossen*** Lena dachte, mit 25 hätte sie ihr Leben im Griff - falsch gedacht. Ein Jogging-Unfall bringt sie nicht nur ins Krankenhaus, sondern mitten in eine Achterbahn der Gefühle. Elias, der arrogante, aber faszinierende Assistenza...