S i e b z e h n

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Die nächsten Wochen verlaufen ereignislos, Ich ertrinke in Arbeit – aber das kommt mir gerade recht. So bleibt mir wenigstens keine Zeit, darüber nachzudenken, was ich dank meines Gipsfußes alles nicht machen kann. Pascale versucht es trotzdem immer wieder, mich zu überreden, auf diverse Partys mitzukommen. Aber mit Krücken im Schlepptau fühle ich mich wie ein Klotz am Bein (im wahrsten Sinne des Wortes), also lehne ich ab.

Mit knurrendem Magen humpele ich in die Büroküche, um mein Linsencurry von gestern aufzuwärmen. Früher habe ich meine Mittagspausen oft im Café gegenüber verbracht, allein das Falafel-Sandwich war es wert. Doch das ist vorbei, seitdem Nadine mir immer wieder das Gefühl gibt, dass meine Arbeit nicht gut genug ist – seit dem Interview hat sie an jedem meiner Texte etwas auszusetzen. Also esse ich mein mitgebrachtes Mittagessen am Schreibtisch, während ich weiterarbeite. Die Mikrowelle summt monoton, während die Minutenanzeige herunterzählt.

Da klingelt mein Handy. Nicoles Name blinkt auf dem Display, und ohne nachzudenken, hebe ich ab. Zur Abwechslung ist nicht meine initiale Reaktion, ihren Anruf einfach zu ignorieren. Schon verrückt, wie sich die Dinge an nur einem Wochenende ändern können.

„Lena! Ich hab' den Job!", platzt es aufgeregt aus ihr heraus.

„Ah, Glückwunsch! Ich freue mich für dich, Nicole, wirklich." Und das tue ich tatsächlich, aber die Worte fühlen sich schwer an.

„Danke!" Sie klingt fast gerührt. „Ich hab' doch gesagt, das sie mich wollen." Ich kann ihr Grinsen förmlich vor mir sehen. „Und das Beste: Bei einer Kollegin wird ein Zimmer in ihrer WG frei, ich kann schon Anfang September einziehen!"

Das ist... schon nächste Woche! Mein Herz setzt einen Schlag aus. Nicole wird also schon sehr bald hier wohnen. Ein neues Kapitel für uns beide. Doch gleichzeitig schnürt sich in mir etwas zusammen. Wird Nicole in mein Leben hier passen? Wir haben es doch gerade erst geschafft, uns wieder näherzukommen.

„Du rufst also an, um zu fragen, ob ich dir beim Umzug helfen kann, oder?", ziehe ich sie auf und versuche, alle Zweifel beiseitezuschieben.

„Ach, Quatsch!" Sie lacht nervös. „Na gut, vielleicht ein bisschen. Ich weiß, dass du noch nicht wieder ganz fit bist, aber du könntest beim Kisten auspacken helfen."

„Klar. Aber ich übernehme keine Haftung, wenn etwas zu Bruch geht, okay?"

„Danke, Lena. Das bedeutet mir echt viel."

Ich spüre einen Kloß im Hals. Für bloßes Kistenauspacken verdiene ich keinen überschwänglichen Dank. Zwischen Geschwistern ist sowas selbstverständlich. Doch nicht bei uns, erinnere ich mich. Zumindest nicht bis vor kurzem. Wie lange wird es wohl dauern, bis Nicole und ich uns an das neue Normal gewöhnt haben? 

Wir verabschieden uns, nicht ohne ihr nochmals zu versprechen, nächsten Samstag beim Umzug zu helfen. 

Ich nehme das dampfende Linsencurry aus der Mikrowelle und kehre an den Schreibtisch zurück. Gedankenverloren kaue ich auf dem Reis herum. Wie wird sich mein Leben ändern, wenn Nicole in München ist? Wird sie wie Pascale einfach mal unangekündigt mit einer Flasche Wein vor meiner Tür stehen? Oder werde ich sie kaum sehen, weil sie im Krankenhaus bis zum Umfallen arbeitet?

Dass Nicole ausgerechnet im Marienhospital anfangen muss – dem Ort, den ich am liebsten aus meinem Gedächtnis radiert und dann verbrannt hätte.

Das Marienhospital... Der Gedanke trifft mich wie ein Schlag. Verdammt! 

Hastig durchwühle ich das Chaos auf meinem Schreibtisch, wo sich Notizen und Papiere stapeln. Mit einem genervten Seufzen ziehe ich schließlich ein zerknittertes Post-it hervor. In meiner krakeligen Handschrift stehen darauf Datum und Uhrzeit.

Ich hätte ja gern einen Termin beim Orthopäden bekommen. Aber nachdem die fünfte orthopädische Praxis mir mitgeteilt hat, dass der nächste freie Termin in sechs Monaten ist (scheiß Zwei-Klassen-System), ist mir nichts anderes übrig geblieben, als einen Termin in meiner persönlichen Hölle auszumachen.

Und der ist schon morgen.

Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt