D r e i ß i g

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Es ist ein seltsames Gefühl, allein in einer überfüllten Bar zu sitzen. Überhaupt bin ich nicht sonderlich gut darin, Dinge allein zu tun, die man normalerweise in Gesellschaft unternimmt. Ich versuche, meine verkrampften Schultern zu lockern. Entspann dich, Lena. Niemand beobachtet dich oder findet es merkwürdig, dass du allein hier sitzt. Ich zwinge mich zu einem weiteren langsamen Schluck. Am liebsten hätte ich das Glas in einem Zug heruntergestürzt und wäre geflohen.

Mein Blick wandert unruhig durch den Raum. Ich scanne die Ecke, in der Elias steht, umringt von der kleinen Blonden und der großen Schlanken. Lukas und die Brünette vergnügen sich anscheinend woanders.

„Ist bei dir noch frei?" Eine Stimme hinter mir reißt mich aus meinen Gedanken. Überrascht drehe ich mich um. Erik. Also habe ich es mir doch nicht eingebildet! 

Erwartungsvoll lächelt er mich an und deutet auf meinen fast leeren Drink. „Keine Sorge, ich komme auch nicht mit leeren Händen." Tatsächlich hat er in jeder Hand einen Drink, der mir verdächtig nach Gin Tonic aussieht. Wie es aussieht, hat sich nicht nur Tom meinen Lieblingsdrink gemerkt. Die naive, romantische Seite in mir ist seltsam gerührt.

„Erik!", rufe ich aus. „Was machst du denn hier?"

Super Frage, Lena, was macht er wohl in einer Bar?

„Ich meine, was für ein krasser Zufall, dass wir uns hier treffen", versuche ich mein Geplapper in etwas Sinnvolles zu verwandeln. Eriks Augen funkeln amüsiert, während er sich auf die Sitzbank gegenüber von mir gleiten lässt.

„Zufall? Oder doch Schicksal?", grinst er und prostet mir zu, bevor er einen kleinen Schluck von seinem Drink nimmt. Ich habe meinen noch nicht angerührt, es wäre schon mein dritter Drink heute Abend. Andererseits – mein Artikel ist fertig. Es gibt also keinen Grund, morgen unbedingt katerfrei zu bleiben. Außerdem habe ich mich die letzten drei Wochen in Abstinenz geübt. Was kann ein weiterer Drink also schaden? 

Als er hätte er meine Gedanken gelesen, schiebt Erik mir das übrige Glas zu. Ich nippe daran und genieße das angenehme Prickeln auf meiner Zunge.

„Danke übrigens", lächele ich ein wenig verlegen. Er lehnt sich zurück und betrachtet mich über den Rand seines Glases.

„Also, Lena", beginnt er. „Was treibst du hier ganz allein?"

„Ich musste einfach mal raus", antworte ich und merke, wie lahm das klingt. Aber immer noch besser als zuzugeben, dass mich meine beste Freundin allein im Pub zurückgelassen hat. „Und du? Was treibst du so?"

Das verschmitzte Lächeln auf seinen Lippen wird breiter. „Ach, weißt du, ich bin ein Mann der spontanen Entscheidungen. Manchmal verschlägt's mich einfach irgendwohin, wo ich interessante Leute treffen könnte." Seine Augen ruhen auf mir, als wolle er andeuten, dass ich zu diesen „interessanten Leuten" zähle. „Und du, Lena? Was machst du so, wenn du nicht gerade die Nächte in Bars oder auf verrufenen WG-Partys verbringst?"

Ich lächele leicht. „Ich schreibe." Seine Augenbraue hebt sich interessiert, deshalb spreche ich weiter: „Ich bin Journalistin bei einem Wirtschaftsmagazin."

„Und was schreibst du so?"

„Alles Mögliche. Interviews, Marktanalysen ... aber mein Traum ist es, Investigativjournalistin zu sein." Kaum habe ich es ausgesprochen, frage ich mich, warum ich ihm so viel von mir preisgebe. Vielleicht ist es wirklich ein Wink des Schicksals, dass er hier ist. Lächelnd nehme ich einen weiteren Schluck.

„Und was machst du eigentlich beruflich?", frage ich plötzlich, um etwas von ihm zu erfahren.

„Ich studiere noch – Kunstgeschichte." Er zuckt mit den Schultern.

„Wow, das ist ja cool!", platzt es aus mir heraus. Erik lacht. Das Geräusch klingt seltsam in meinen Ohren, zu laut, wie ein verzerrtes Echo.

„Das höre ich selten. Normalerweise stempeln die Leute das als langweilig ab."

„Langweilig? Kunst ist alles, aber nicht langweilig!", erwidere ich entschlossen. Doch während ich das sage, spüre ich, wie mir der Alkohol zu Kopf steigt. Eine Welle aus Übelkeit und Müdigkeit schlägt über mir zusammen. Irgendwas ist ... falsch.

Eriks Gesichtsausdruck verändert sich – seine Augenbrauen ziehen sich besorgt zusammen. „Ist dir nicht gut, Lena?"

„Doch", murmele ich. „Ich muss nur kurz auf die Toilette." Als ich mich erhebe, schwankt alles um mich herum. Der Raum dreht sich, und mein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Bevor ich richtig begreife, was passiert, ist Erik schon neben mir, seine Hand stützt mich an der Taille. 

„Alles okay, ich hab' dich", sagt er leise, sein Atem streift mein Ohr. Doch irgendetwas ist falsch. Verdammt falsch. 

Ich will etwas erwidern, aber meine Zunge fühlt sich seltsam pelzig an. Meine Beine sind schwer wie Blei, und mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Mit jeder Sekunde in dem stickigen Raum wird die Übelkeit schlimmer, die Müdigkeit stärker.

Wie aus weiter Entfernung höre ich seine Stimme. „Dir geht es offenbar nicht gut, Lena. Komm, ich bring dich nach Hause."

Erik schiebt mich vorwärts, und ich lasse es geschehen, unfähig, etwas dagegen zu tun. Die Realität entgleitet mir – und dann formt sich ein einziges Wort in meinem Kopf: K.-o.-Tropfen.

Wie konnte ich nur so dumm sein, einen Drink von einem Fremden anzunehmen? Aber ... aber es ist Erik. Erik ist nicht fremd. Und doch... Ich hätte mich ohrfeigen können für meine Dummheit, bräuchte ich nicht meine ganze Energie, um nicht im Stehen einzuschlafen. Mein Bewusstsein flackert –

Nein! 

Doch die Welle an Müdigkeit und Übelkeit ist überwältigend, vermischt sich mit Panik und Verzweiflung. 

Mach etwas – irgendetwas! Schrei um Hilfe! 

Aber ich kann nicht. Alles wird taub. Die Hand um meine Taille verstärkt sich, als er mich weiterzieht.

Menschen, Gesichter vermischen sich, ziehen an mir vorbei. Ich suche Halt in diesem Strudel: ein stummer Hilferuf, ein Blickkontakt... Ein undefinierbares Geräusch ist alles, was ich hervorbringe. Ich werde einfach weitergeschoben, lasse es geschehen, willenlos, die Hand um meine Taille schraubt sich fester – sie ist alles, was mich noch aufrecht hält.

Wir sind fast am Ausgang. Nur noch ein paar Schritte – und draußen ... draußen bin ich ihm ausgeliefert. Alles in mir bäumt sich auf.

NEIN. 

Jeder Gedanke kostet Kraft. Wir halten. Mein Körper versagt. Der Griff um meine Taille verstärkt sich. Alles verschwimmt.

Blaugraue Augen finden mich.

Hilfe.

„Lena hat nur ein bisschen zu viel getrunken, ich bring sie nach Hause." Worte aus weiter Entfernung.

Eine Stimme antwortet, schneidend wie Eis: „Wir beide wissen, dass das nicht stimmt, du verdammter Wichser. Noch ein Wort, und –"

„Ganz ruhig, Mann. Was kann ich dafür, wenn sie sich abschießt?"

Die Hand verschwindet. Ich sacke zusammen. Dann werde ich von einem schützenden Griff umfangen, fest und sicher. 

Und dann nichts mehr. 

Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt