„Die Verführung der Macht liegt nicht nur in den Entscheidungen, die sie ermöglicht, sondern auch in der Illusion, unantastbar zu sein. Eine Illusion, die häufig auf Kosten anderer entsteht – und zerbricht, sobald sie ans Licht gezerrt wird."
Nadine lehnt sich zurück, die Arme verschränkt, ihre eisblauen Augen blitzen unter akkuraten Lidstrichen hervor. Mit einem missbilligenden Lippenkräuseln mustert sie das ausgedruckte Blatt Papier, das ich ihr heute Morgen auf den Schreibtisch gelegt habe. Sie räuspert sich, dann fährt sie fort:
„Reinhold Kessler hat sich diesen Mantel der Unantastbarkeit selbst umgelegt, genährt von Lobeshymnen, Schweigen und der subtilen Angst, die er in seinen Fluren hinterlässt. Aber was passiert, wenn jemand diesen Mantel in Frage stellt? Und was bleibt, wenn er fällt?"
Sie lässt das Blatt sinken, ihre Finger trommeln leise auf die Tischkante. Die Stille im Raum ist erdrückend.
„Interessant." Ihr Ton ist messerscharf.
„Interessant?" Ich schlucke schwer. Mein Magen zieht sich zusammen.
„Interessant, Lena, dass du offenbar entschieden hast, dass die Anweisungen, die ich dir gegeben habe, optional sind." Ihre eisblauen Augen fixieren mich, und ich spüre, dass sie mich durchschauen kann – jede Unsicherheit, jeden Zweifel, aber auch jede Überzeugung, die ich in diesen Text gesteckt habe. „Deine Aufgabe war es, ein Interview zu schreiben. Neutral, sachlich, ohne persönliche Einfärbung. Was ist das hier?"
Ich spüre die Röte in meine Wangen steigen, doch ich zwinge mich, ihrem Blick standzuhalten. Die letzten Tage habe ich das Interview mit Kessler immer wieder durchgelesen. Jedes Wort fühlte sich falsch an, seelenlos. Also habe ich weiter recherchiert, zahllose Telefonate geführt – und schließlich eine Entscheidung getroffen.
„Ein Portrait", antworte ich ruhig, auch wenn mein Herz wild pocht. „Ein Portrait über einen Mann, dessen Macht nicht nur auf seinem Erfolg gründet, sondern auch darauf, wie er mit Menschen umgeht."
„Aha." Nadines Augenbrauen heben sich. „Und was macht dich zur Expertin dafür, diese Dynamiken zu beurteilen?"
„Ich bin keine Expertin", gebe ich zu, meine Stimme bleibt fest. „Aber ich habe mit Menschen gesprochen. Ehemaligen Mitarbeiterinnen. Sie haben mir ihre Geschichten erzählt. Geschichten, die nicht zu dem passen, was Kessler in dem Interview darstellen wollte."
Nadines Blick bleibt kalt, forschend.
„Es ist unsere Aufgabe, die Wahrheit zu erzählen", sage ich und höre selbst, wie trotzig das klingt.
„Unsere Aufgabe? Weißt du überhaupt, was du damit anrichten kannst? Kessler wird sich das nicht einfach gefallen lassen, so viel ist sicher."
Ich zucke zusammen. „Ich habe niemanden beschuldigt. Ich habe nur Beobachtungen angestellt und Fragen gestellt."
„Beobachtungen." Sie lacht trocken. „Weißt du, was für ein Risiko du diesem Verlag damit aussetzt? Männer wie er sind einflussreich, Lena. Er könnte unsere Zeitschrift in Grund und Boden klagen, wenn er will."
Meine Finger krallen sich in den Stoff meines Rocks. Hitze steigt in mir auf, aber diesmal nicht aus Scham. „Ich weiß, wie Männer wie er sind", sage ich leise, mein Ton schärfer, als beabsichtigt.
Nadine blinzelt. Ihre Augenbrauen ziehen sich leicht zusammen, und für einen Moment ist da so etwas wie – Verständnis?
„Was meinst du damit?"
Ich atmete tief ein. „Ich habe seine Macht gespürt. Er hat..." Ich suche nach den richtigen Worten, die den Kloß in meinem Hals nicht noch größer machen. „Er hat Situationen geschaffen, in denen ich mich in die Ecke gedrängt gefühlt habe. In denen ich keinen Raum hatte, wirklich Nein zu sagen." Mein Blick sucht Nadines, und ich zwinge mich, weiterzusprechen. „Es ging ihm um Kontrolle."
Die Worte hängen in der Luft, und ich kann sehen, wie sich Nadines Haltung verändert. Die Anspannung weicht, ihre Schultern sinken ein wenig, und sie lehnt sich zurück.
„Das hättest du mir sagen sollen." Ihre Stimme ist ruhig, fast nachdenklich.
Ich zucke mit den Schultern. „Was hätte das geändert?" Ich merke selbst, wie bitter das klingt.
„Vielleicht nichts", gibt sie zu. „Aber vielleicht hätte ich besser verstanden, warum du diesen Text geschrieben hast." Sie betrachtet mich einen Moment lang. „Weißt du, was mich dabei am meisten überrascht, Lena?"
Ich schüttele den Kopf.
„Dass du diesen Mut hast. Ich sehe das nicht oft bei jungen Journalisten. Die meisten schreiben, was ihnen gesagt wird, und halten sich lieber zurück, als jemandem auf die Füße zu treten."
„Vielleicht bin ich einfach schlecht darin, Anweisungen zu befolgen", murmele ich.
Zu meiner Überraschung huscht ein Lächeln über Nadines Gesicht. „Offensichtlich. Aber ich bin nicht blind, Lena. Ich sehe, dass du dich bemühst, die Geschichte hinter der Geschichte zu erzählen. Das ist wichtig. Aber es ist auch gefährlich."
Ich nicke langsam. „Ich verstehe die Risiken."
„Das hoffe ich." Sie fixiert mich mit ihren eisblauen Augen. Dann seufzt sie tief. „Gut. Ich werde den Text freigeben – mit ein paar kleinen Änderungen."
Mein Herz setzt kurz aus. „Wirklich?"
„Ja. Aber Lena?" Die Schärfe kehrt in ihren Ton zurück.
„Ja?"
„Das nächste Mal, wenn ich dir eine Anweisung gebe, befolgst du sie. Ist das klar?"
Ich nicke hastig, auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich dieses Versprechen halten kann.
„Du kannst gehen", sagt sie und wendet sich ihrem Computer zu. Das Gespräch ist beendet.
Ich erhebe mich, aber an der Tür halte ich inne. „Danke, Nadine."
Nadine hebt kurz ihren Blick. Ihre Lippen kräuseln sich leicht, aber diesmal nicht vor Missbilligung.
Erleichtert verlasse ich ihr Büro. Draußen atme ich tief durch, lasse die angestaute Spannung mit einem langen Atemzug entweichen. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht – nicht aus Triumph, sondern aus der leisen Hoffnung, vielleicht doch etwas bewegt zu haben.
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Between Heartbeats
Romance***Band 1 abgeschlossen*** Lena dachte, mit 25 hätte sie ihr Leben im Griff - falsch gedacht. Ein Jogging-Unfall bringt sie nicht nur ins Krankenhaus, sondern mitten in eine Achterbahn der Gefühle. Elias, der arrogante, aber faszinierende Assistenza...