N e u n u n d v i e r z i g

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„Halt still!", zischt Pascale und fährt mir zum gefühlt zehnten Mal mit der Haarbürste durch die Haare.

„Meinst du nicht, das ist ein bisschen übertrieben?" murmele ich und mustere mein Spiegelbild. Das graue Strickkleid, für das ich mich entschieden habe, schmiegt sich um meine Silhouette, und meine frisch gestylten Locken, die Pascale mir mit dem Glätteisen gezaubert hat, umrahmen mein Gesicht. Bin das wirklich ich?

„Außerdem kennt er mich sowieso schon ungeschminkt", sage ich mehr zu mir selbst als zu ihr.

Pascale schnaubt. „Mag sein. Aber willst du ihm nicht zeigen, wie du aussehen kannst, wenn du dir ein bisschen mehr Mühe gibst? Es ist das dritte Date, Girl! Du weißt, was das heißt." Sie wirft mir einen vielsagenden Blick zu, zögert kurz. „Ihr habt doch noch nicht...?"

Ich verdrehe die Augen, aber mein Magen zieht sich zusammen. Vor Nervosität, Vorfreude... oder dem wunden Punkt, den Pascale angesprochen hat. Unser drittes Date. Bei dem Gedanken daran, was heute passieren könnte – was hoffentlich passieren wird ... Hitze breitet sich in mir aus.

„Nein, haben wir nicht. Er will es langsam–"

Da ertönt das Summen der Türklingel. Mein Herz setzt kurz aus.

„Er ist da", stoße ich atemlos hervor und richte mich auf.

„Halt! Was ist das?" Pascale starrt entgeistert auf meine Füße. „Adiletten? Ernsthaft, Lena? Willst du ihn direkt an der Haustür vergraulen?"

Ich seufze. „Ich zieh sie gleich aus." 

Ich durchquere das Wohnzimmer und den Flur bis hin zur Haustür, Pascale folgt mir. Mein Finger ruht einen Moment auf dem Türöffner, bevor ich ihn durchdrücke. „Hi, ich bin noch nicht ganz fertig", sage ich in die Gegensprechanlage. „Du kannst schon mal hochkommen."

„Geh schon, ich mache ihm die Tür auf", sagt Pascale lächelnd und drückt mir meine schwarzen Stiefeletten in die Hand.

Dankbar nehme ich sie entgegen und lasse mich auf die Couch sinken, kämpfe mit dem Reißverschluss, als es erneut klingelt. Ich atme tief durch, streiche mir ein letztes Mal über das Kleid. Heute fühle mich... schön. Irgendwie selbstbewusst. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als ich aufstehe und in den Flur zurückgehe. Da bemerke ich sie –

Die Stille.

„Pascale?" 

Meine beste Freundin steht mit dem Rücken zu mir. Und hinter ihr... Elias. Er hat die Hände lässig in den Taschen vergraben, doch diesmal ist da kein schiefes Lächeln auf seine Lippen, keine Sanftheit in seinen blaugrauen Augen. Keine Wärme. Nur Überraschung. Schock. Und seine Augen sind nicht auf mich gerichtet. Sondern auf Pascale.

„Hi, Elias", bringe ich hervor. Meine Stimme klingt zu schrill in meinen Ohren. 

Sein Blick schießt zu mir. Seine Augen weiten sich und... was ich darin sehe, ist wie ein Schlag in die Magengrube. 

Ich bekomme kaum Luft. 

„Ihr kennt euch." Es ist keine Frage. Nicht wirklich.

Pascale lächelt schief. „Nur flüchtig."

„Elias?" Ich warte auf seine Antwort, aber es kommt keine. Seine blaugrauen Augen ruhen auf mir, sie sind voller Schmerz. Reue. 

Mir wird schlecht.

„Woher?" Ein einziges Wort, das mich so viel kostet. 

Stille.

„Hattet ihr was miteinander?" Meine Stimme zittert.

Elias' Schultern sacken herab. „Es war bevor... bevor wir uns richtig kennengelernt haben", sagt er schließlich leise.

Etwas in mir bricht. Ein feiner Riss, der sich immer weiter ausdehnt. Immer weiter.

Ich höre mein Blut rauschen. „Wann?"

„Vor ein paar Monaten", sagt Pascale sanft. „Es war nichts Ernstes, Lena. Ein One-Night-Stand."

„Ein One-Night-Stand", wiederhole ich tonlos.

Ein weiterer Riss. Ein Knacken, das immer lauter wird.

Mein Blick bohrt sich in Elias. „Wann?", frage ich nochmal.

Er schließt kurz die Augen. „Ein paar Tage nach der WG-Party."

Die Party, auf der er mich geküsst hat, gedemütigt hat. Dieselbe Party, auf der Pascale ein Auge auf Elias geworfen hat. Ich bin so blöd ich bin so blöd ich bin so blöd.

Das Knacken ist so laut, dass ich nichts anderes mehr höre. Ich versuche zu atmen, doch bekomme kaum Luft.

 „War das alles kalkuliert von dir?", krächze ich. „Um mich noch mehr zu verletzen? Noch mehr zu demütigen?"

In seinem Blick liegt so viel Bedauern, dass es fast wehtut, ihn anzusehen.

„Ich hatte keine Ahnung, dass sie deine Freundin ist, erst hinterher. Lena, das musst du mir glauben. Ich–"

„Ich muss gar nichts", zische ich.

Er verzieht schmerzhaft das Gesicht, als hätte ich ihn geohrfeigt.

„Ich wollte dir nicht wehtun", sagt er leise. „Es war bevor wir –"

„Bevor was? Es ist schließlich nichts passiert zwischen uns, außer ein paar Küsse." Ich lache auf. „Jetzt ergibt alles Sinn. Warum du nicht mir schlafen wolltest. Es langsam angehen lassen wolltest." Ich schüttele den Kopf „Ich war so naiv."

Mein Herz zerbricht endgültig. Ich spüre, wie sich die erste Träne aus meinem Augenwinkel löst. Hastig wische ich sie weg und verschränke die Arme vor der Brust, als könnte ich mich damit selbst zusammenhalten.

„Ich wusste, ich hätte ich mich für Sebastián entscheiden sollen. Er hätte mich nie so hintergangen", flüstere ich. Ein Funken Wahrheit, vielleicht, doch ich sage es, um ihn zu verletzen. So wie er mich verletzt hat. 

Elias' Augen verdunkeln sich. „Tu das jetzt nicht, Lena." Seine Stimme ist ruhig. „Gib uns nicht auf. Was wir haben, ist echt, auch wenn ich verdammten Mist gebaut hab."

Ich halte seinem Blick stand, obwohl mein ganzer Körper schreit, wegzusehen, wegzurennen. „Echt?" Ich schnaube. „Zwischen uns war nichts echt, sonst hättest du mich nicht angelogen."

Ich wende mich Pascale zu. „Und du..." Meine Stimme bricht. „Du wusstest es, nachdem ich dir im Condesa von Elias erzählt habe. Du wusstest es." 

Sie hebt abwehrend die Hände. „Lena, ich wollte ja auch nicht, dass das so rauskommt. Es war nur–"

„Raus", schneide ich ihr das Wort ab.

Elias sieht mich an, sein Mund öffnet sich, als wolle er etwas sagen. Aber ich schüttele nur den Kopf. „Ihr beide. Raus."

Pascale wirft mir einen bedauernden Blick zu, drängt sich an Elias vorbei, und verschwindet im Treppenhaus. Elias hingegen rührt sich nicht. Es ist mir egal. Alles ist mir egal. 

Ich knalle ihm die Tür vor der Nase zu.

Kaum fällt die Tür ins Schloss, sinke ich völlig kraftlos zu Boden.

Ich spüre den Scherbenhaufen in meiner Brust. 

Es fühlt sich an, als würde er mich von innen zerreißen.

Und dann kommen die Tränen.




Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt