Kain schritt langsam und mit gesenktem Haupt den finsteren Gang entlang, der ihn in die Arena führen würde. Der Sand unter seinen nackten Füßen war weich und kalt und beruhigte sein hämmerndes Herz dennoch nicht.
Er wusste, was kommen würde.
Er hatte es schon oft genug erlebt, es oft genug getan, um den Schmerz vorhersehen zu können. Und das war das Schlimmste an seinen Fluch. Die Last seiner ungezählten Lebensjahre drückte seine starken Schultern nieder.
Im nächsten Moment hatte er das große Tor erreicht, das wenig später von zwei römischen Soldaten aufgestoßen wurde. Helles Tageslicht begrüßte Kain und offenbarte ihn dem Publikum.
Er richtete sich auf, der Lendenschurz und ein leichter Brustpanzer waren seine einzige Bekleidung, der Rest seines muskulösen, sonnengebräunten Körpers war unbedeckt. Hunderte Augenpaare glitten über die glänzende Schwertklinge in seinen Händen, über seine schulterlangen, braunen Haare und die wilden Augen, eines sturmgrau und eines braun.
Sie sahen einen Gladiator, wie man ihn nur malen konnte und doch sahen sie nicht, worauf es ankamen.
Sie sahen die Anspannung in seinen Fäusten nicht, nicht den tobenden Schmerz in seinen Augen und nicht die unzähligen Narben auf seinem Körper und seiner Seele, die einem Menschen unmöglich in einer einzigen Lebensspanne zugefügt werden konnten.
Dann, über den tosenden Jubel des blutdurstigen Publikums hinweg, ertönte die Fanfare. Am anderen Ende der Arena schwang ein weiteres Tor auf.
Kains Herz überschlug sich heftig und er holte keuchend Luft, er hatte vergessen zu atmen.
Auch ohne es genau zu sehen wusste er, wie sein Gegenüber aussah.
Zu oft schon hatte er die langen, blonden Haare gesehen, die zu einem Knoten geflochten waren, die hellen, grünen Augen und das symmetrische Gesicht mit der einmal gebrochenen Nase.
Alles an dem dünnen Lederbrustpanzer mit den gekreuzten Gurten und dem Speer und Messer in seinen Händen war Kain vertraut wie sein eigener Körper.
Ihre Blicke trafen sich und Kain erschauderte. Seine Lippen bewegten sich und der Name verließ seine Lippen, ohne dass er es merkte:
„Abel..."
Dann erklangen die Fanfaren erneut und die Tore fielen hinter ihnen ins Schloss. Nur einer von ihnen würde es aus der Arena schaffen.
Und Kain wusste, dass er es sein würde - sein musste, denn sein Fluch verhinderte, dass er sich an Abels statt opferte. Und das war die schlimmste Strafe, die man ihm hatte auferlegen können.
Langsam trat er in die Mitte des runden Sandplatzes und musterte Abel. Er war so wunderschön wie am ersten Tag, an dem die beiden sich getroffen hatten, doch auch seinen Augen waren die unzähligen tragischen Lebensenden anzusehen, die er erlebt hatte.
Sobald sie nah genug waren, schenkte Abel ihm ein sanftes Lächeln und deutete unauffällig auf seine ungeschützte rechte Seite. Kain verstand die Bitte und sein Kiefer knackte vor Anspannung.
Er holte Luft, wollte um Verzeihung bitten, als Abel sanft den Kopf schüttelte und dann mit einer fließenden Bewegung angriff.
Fluchend wich Kain zurück, entging der blitzenden Speerspitze nur durch eine Drehung des Oberkörpers und riss sein Schwert hoch, um den herabsausenden Dolch abzufangen.
Die Menge tobte, doch er war vollkommen auf den liebevollen Ausdruck in Abels Augen konzentriert. Das hier war ihre Sprache, der einzige Weg, über den sie sich ihre Liebe beweisen konnten.
Sie umtanzten einander, trieben einander durch die gesamte Arena und entlockten dem entzückten Publikum laute Rufe der Begeisterung.
Irgendwann jedoch nahm Kain wahr, wie der Prinz auf seinem Podium ungeduldig wurde und aufstand. Eiskalte Erkenntnis wallte in ihm auf, denn entweder würden sie den Prinzen zufriedenstellen oder beide sterben. Grimmig fasste er einen Entschluss.
Bevor Abel reagieren konnte, drehte Kain sich so in den nächsten Speerstoß, dass die Klinge sauber in seine rechte Schulter eindrang, hinter ihm wieder auftauchte und ihm mit einer gleißenden Welle des Schmerzes den Schwertarm lähmte.
„Verdammt, Kain!", keuchte Abel auf und ließ den Holzspeer los, als hätte er sich verbrannt. Das hier war neu, sie spielten nicht mehr nach dem Skript.
Kain schwankte kurz gefährlich, dann nahm er sein blutbesudeltes Schwert in die linke Hand und grinste schief.
„Ich bitte dich, Abel. Tu mir den Gefallen."
Und mit diesen Worten stürmte er auf Abel zu, das Schwert hoch erhoben. Abel schrie frustriert auf, blockte aber die Klinge mit dem Holzgriff ab und wollte zurückweichen.
Kain sah den überraschten Ausdruck in seinen grünen Augen, als er es nicht konnte.
Binnen eines Augenblicks wurde die Überraschung zu Panik, als Abel den festen Griff um seine linke Hand spürte. Seine Augen ruckten hoch und fanden endlich Kains Gesicht, das ihm so nahe war.
„Was hast du getan?", flüsterte Abel mit brüchiger Stimme, während er langsam in die Knie ging, um Kains Sturz abzufangen. Sein Messer, das aus Kains Brust ragte, wurde warm und glitschig von Blut.
Ein sanftes Lächeln erhellte Kains Gesicht und er strich Abel eine blonde Strähne aus den Augen.
„Vielleicht brechen wir endlich den Fluch. Und wenn nicht, dann sterbe ich lieber, als dein Leben erneut nehmen zu müssen, Abel."
Dieser schloss gequält die Augen. Sie hatten schon so viel ertragen, wann würde es endlich aufhören?
Bekümmert lauschte er dem krampfhaften Röcheln seines Geliebten und konnte nichts anderes tun, als ihn zu halten und leise Bekundungen seiner Liebe zu murmeln.
Als Kain schließlich seinen letzten Atemzug nahm und seine sonst so klaren Augen sich trübten, wusste Abel, welche Last er all die Jahre auf sich genommen hatte.
Es gab keine grausamere Strafe als gezwungen zu werden, den Gelieb zu töten, nur um als Mörder zu leben, zu sterben und schließlich wiedergeboren zu werden, damit sich alles wiederholen konnte.
Abel sackte in sich zusammen und betete, dass sein zerberstendes Herz einen Unterschied machen würde.
Er blickte in das wütende Gesicht des römischen Prinzen über sich und wusste mit dankbarer Gewissheit, dass er den morgigen Tag nicht erleben würde.
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Waves - Oneshots BoyxBoy
KurzgeschichtenHier findet ihr verschiedene Szenarien zwischen Jungs, manchmal dirty, manchmal romantisch und ab und an beides:) Ursprünglich sollten es einfach Oneshots werden, jetzt sind es von der Länge her manchmal eigene kleine Kurzgeschichten, aber egaaal. ...