Am nächsten Tag erwartete er sie wie immer beim Pavillon, verkündete aber, dass sie diesmal den Haupteingang nehmen würden.
Sie lachte auf.
„Du sagst das, als sei es etwas Besonderes, sich mal nicht durch eine Geheimtür reinzuschleichen."
Amüsiert antwortete er:
„Bei uns ist es das ja auch."
Er wurde ernst.
„Der Unterschied, vor allem für uns, ist, dass uns alle zusammen sehen werden. Das wird mindestens für die nächste Woche das Hofgespräch sein. Vielleicht treffen wir sogar meinen Vater."
Jetzt war Jenna doch nervös.
„Okay."
Sie lächelte ihn tapfer an.
„Machen wir's offiziell."
Gemeinsam spazierten sie einmal um Rehingard herum, auf die andere Seite des Schlosses. Kurz bevor sie um die Ecke bogen, zögerte Jenna noch mal.
„Ähm... Gibt's irgendein bestimmtes Image, das wir uns jetzt machen wollen oder müssen?", fragte sie unsicher.
Beruhigend verflocht er seine Finger mit ihren.
„Wie wär's mit verliebt?", beruhigte er sie mit einem kleinen Witz und küsste sie schnell, dann zog er sie hinter der Ecke hervor.
Dank des guten Wetters hielten die Meisten sich irgendwo außerhalb auf, weshalb nur Wenige unter dem steinernen Eingangsbogen ein und aus gingen. Das Schloss selbst bestand aus einem großen Turm, dem Bergfried in der Mitte des Gebäudes, in dem die königliche Familie und andere wichtige Adelige untergebracht waren. Am Fuße dieses Turms standen vier kleinere Häuser, in denen die Angestellten und Untergebenen lebten, umgeben war das Ganze von einer hohen Wehrmauer, an der noch viele kleinere Hütten, zum Beispiel Schmieden oder Ställe, standen, aber trotz allem großzügig Platz für den Burghof ließen. Auf diesem herrschte mal wieder Hochbetrieb.
Manche machten nur einen kleinen Spaziergang, andere hetzten über den Platz, doch das größte Gedränge war am Brunnen, da hier Wasser geholt, Wäsche gewaschen und vor allem Klatsch und Tratsch ausgetauscht wurde.
Jenna beobachtete ein paar Jungen, die eine Schar Gänse in einen Stall trieben, als der junge Prinz und seine schöne Begleiterin bemerkt wurden und sich alle Augen auf das Paar richteten.
Sie lächelte würdevoll, klammerte sich aber gleichzeitig hilfesuchend an Lucian.
„Du machst das großartig.", flüsterte er ihr zu, dann lächelte auch er in die Menge, bevor er ihr bedeutete, einfach weiter zu gehen. Hand in Hand schlenderten sie über den Hof, als würde nicht der halbe Hofstaat sie anstarren und die Leute wichen zurück, um ihnen Platz zu machen.
Jenna wurde ruhiger, immerhin war auch sie bekannt und wurde manchmal angestarrt. Trotz allen konnte sie nicht leugnen, dass die vielen Blicke sie ein wenig nervös machten.
Lucian drückte kurz ihre Hand, dann drehte er sich um und verkündete entschieden:
„Es gibt hier nichts zu sehen."
Sein befehlsgewohnter Ton verfehlte seine Wirkung nicht und die Menge verlief sich schneller als sie entstanden war, einige sahen schuldbewusst, die Meisten nur noch neugieriger aus. Dankbar seufzte Jenna auf und entspannte sich ein wenig, wurde aber erst wieder ganz ruhig, als sie durch eine Tür an der westlichen Flanke der Wehrmauer getreten waren.
„Tut mir leid.", meinte Lucian zerknirscht.
„Ich wollte eigentlich nicht die Machtkarte ausspielen."
„Ist doch schön zu wissen, dass alle auf dich hören.", beruhigte Jenna sein Gewissen. Von ihrem neugierigen Blick ermutigt zog er sie eine Treppe hinauf, die auf die Mauer führte.
„Im untersten Stockwerk befinden sich Wohnungen für die ärmeren Leute, die Bewohner nennen das Fandrum Sitëa. In der Elfensprache bedeutete das so viel wie 'die dunkle Stadt' oder 'die kleine Stadt'. In Fandur kenne ich mich aber leider nicht aus." Bedauernd führte er sie ein Stockwerk höher. „Hier sind die Aufenthaltsräume für die Wachen, außerdem noch Trainingsräume, Waffenkammern und ein Lazarett. Am Fuß der Treppe, die letztendlich auf die Mauer führt, sind schwere Türen, die man schließen kann, sollte jemand von außen über die Mauer kommen." Durch eben so eine Tür gingen sie die letzten Stufen hinauf.
Die Wachposten neben der Treppe erkannten erstaunt den Prinzen und nahmen Haltung an. Die beiden ignorierend traten Jenna und Lucian auf den von der Sonne beschienenen Weg, der links von mannshohen Zinnen, rechts von einer hüfthohen Mauer gesäumt war und einmal um die gesamte Burg herumführte.
Zwischen zwei Zinnen löste Jenna sich von Lucian, um näher herantreten zu können. Von der Höhe hatte man einen fantastischen Ausblick über den gesamten westlichen Teil der Hauptstadt, die um Schloss Rehingard herum lag. Überall waren bunte Dächer, glitzernde Flüsse, grüne Waldstücke und winzige Menschen zu sehen.
„Wow.", hauchte Jenna. „Ich könnte den ganzen Tag einfach nur hier stehen und den Leuten zuschauen."
Lucian lachte.
„Das wird schnell langweilig, glaub mir. Willst du dein Haus sehen?"
Freudig drehte sie sich um.
„Ja, natürlich!", rief sie begeistert.
Fasziniert betrachtete Lucian ihre freudige, beinahe kindliche Begeisterung, dann ließ er sich von seiner ungeduldigen Begleiterin weiterziehen. Sie gingen einmal außen herum, erst über das Eingangstor, dann über die östliche und schließlich die nördliche Seite. Oft blieb Jenna stehen und genoss den Ausblick über die Stadt, dann sah Lucian sie immer voller Liebe an. Sollte sie tatsächlich einen Tag hier verbringen, würde er dabei sein, um keines der vielen Male zu verpassen, in dem sich ihr Gesicht wieder in entzückter Freude und Faszination zu einem strahlenden Lächeln verzog.
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Jenna
FantasyJenna lernt den charmanten Prinzen Lucian kennen, mit dem sie dann bald ins Schloss zieht. Ihr kurzes Glück wird von einer Reihe von Morden getrübt, die nicht lange außerhalb des Schlosses bleiben. Haben die Morde irgendetwas mit Jennas Anwesenheit...