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Jenna rannte durch die Gänge, bis sie an eine ihr bekannte Stelle kam. Um nicht aufzufallen, lief sie zügig durch die Menge. Lucian würde ihr nicht folgen, das wusste sie. Er war wieder er selbst. Aber kannte sie dieses Selbst?
Sie gab ihm nicht die Schuld am Tod der Leute, aber sie konnte nicht mehr mit ihm zusammen leben.

Die Kapuze, die sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte, saugte die Tränen auf, die ihr übers Gesicht liefen. Als erstes wollte sie zu ihren Bruder. Weiter wusste sie nicht. Sie konnte nicht zurück zu ihrem Vater gehen, da dieses dunkle Bewusstsein sie dort finden würde. Außerdem musste sie ihre Familie warnen. Der Dunkle wollte ihr wehtun und damit gefährdete sie ihren Vater und ihren Bruder.

Obwohl sie ihre Mutter nicht kannte, verspürte sie eine unglaubliche Wut auf sie. Wie konnte sie ihrer Tochter ein solches Erbe hinterlassen?
Was hatte sie diesem anderen angetan und warum?
Wie hatte ihr Vater so jemanden lieben können? 

Auf dem Hof duckte sie sich trotz tief ins Gesicht gezogener Kapuze hinter Stände und Wägen, bis sie endlich zum Tor hinaus war. Da es regnete war auf der Straße, die eher ein schlammiger Weg und halb überflutet war, niemand unterwegs.
Jenna war das nur recht.
Ungeachtet des aufspritzenden Wassers und des Drecks rannte sie die menschenleere Straße entlang.
Der Wind wehte ihr die Kapuze vom Kopf und Regen in ihr Gesicht, doch sie wollte nur laufen. Ihre Haare und Klamotten waren in kürzester Zeit tropfend nass und klebten kalt und klamm an ihrer Haut. Unter ihren Füßen spritzte das Wasser auf und hinterließ eine Dreckkruste am Saum ihres Kleides, doch sie störte sich daran genauso wenig, wie an den erdigen Spritzern in ihrem Gesicht.

Als sie ihr Haus erreichte, stahl sie sich durch eine Seitentür hinein. Sie wollte jetzt nur mit ihrem Bruder sprechen, mit niemandem sonst. Eine schlammige Spur hinterlassend rannte sie durch die Gänge, bis zum Zimmer ihres Bruders. Ohne Klopfen stürmte sie aufgelöst ins Zimmer und schloss die Tür wieder hinter sich.

„Nat?", rief sie mit heiserer Stimme.
„Nathaniel?"
Keine Antwort.
Sie lief ins Schlafzimmer und sogar ins Bad und suchte ihn, doch er war nicht da. Vielleicht war er für den Abend weg.
Auf dem Sofa hinterließ sie einen nassen Fleck, als sie sich darauf fallen ließ, doch sie ignorierte das, da sie einen Briefumschlag auf dem Tisch liegen sah. Sie schnappte sich das Schreiben und sah es an. Der Umschlag war mit den einfachen Wort Jenna adressiert, deshalb riss sie ihn auf und fand nur eine kleine Notiz darin.

Liebe Jenna,
Ich werde länger weg sein, da ich etwas entdeckt habe.
Pass auf dich auf, sei vorsichtig und vertraue niemandem außer Silver.
In Liebe, Nat.

Er war weg. Einfach so. Er hatte sich nicht verabschiedet, ihr nicht Bescheid gesagt, sondern war einfach so abgehauen. Wer wusste, wie lang der Brief hier schon lag? Und sie sollte auf sich aufpassen und niemandem vertrauen.
Wie konnte er sie da alleine lassen? Und wer zur Hölle war Silver?
Wütend knüllte sie das Pergament zusammen und schmiss es in die Ecke, doch dann kamen die Tränen.
Allein und schluchzend saß sie auf dem Sofa.

Tränen für alle Mordopfer, für Anna, für sich selbst, für Lucian, der nichts dafür konnte, für ihren Bruder, der sie allein gelassen hatte, aber dafür jetzt vielleicht in Sicherheit war, für ihren Vater, der seine Frau verloren hatte und jetzt von ihrem Erbe getroffen wurde, für König Malcolm, ihren Schwiegervater, der von seinem Sohn getötet wurde und auch für Felician und Shenni, die ihre Eltern verloren hatten und bei ihrer Tante leben mussten.

Verbittert sah sie auf. Felician.
Er hatte ihr die Tür einer Wohnung vor der Nase zugeschlagen, die sie gekauft hatte. Sie hätte ihm die Wohnung wieder abnehmen sollen, diesem Widerling, bevor er mit seinen vielen Flittchen darin herumvögelte.
Ja, das würde sie jetzt tun. Die Wohnung zurückholen und dort leben. Lucian würde sie dort niemals vermuten und vorerst war es die beste Lösung.

Sie holte sich ein Tuch, um sich die Nase zu putzen und die Tränen weg zu wischen, dann schleppte sie sich nass aber unentdeckt wieder aus dem Seitenausgang hinaus in den strömenden Regen.
Den gesamten Rückweg rannte sie ebenfalls, allerdings eher, damit sie das Schloss noch erreichte, bevor die Tore geschlossen wurden. Sie schaffte es noch knapp und wurde von den Wachen kritisch betrachtet. Ihre Kapuze saß schief, doch so verdreckt und durchnässt erkannten sie sie ohnehin nicht und ließen sie schließlich mit einem Brummen passieren.

JennaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt