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Jenna spürte, wie sich ein Klumpen in ihrem Hals bildete, unter dem sich ihr Entsetzen aufstaute. Als der Klumpen brach, erwartete sie einen Schrei, doch ihr kam nur ein heiseres Keuchen über die Lippen.

Auf der Treppe lag ein regloser Körper in einer Blutlache. Seltsam verdreht war der Kopf in ihre Richtung gedreht und glasige, weit aufgerissene Augen starrten sie an. Über den Hals und den Oberkörper zogen sich tiefe Schnitte, aus denen eine Menge Blut ausgetreten war und sich über den gesamten Körper und den Boden verteilt hatte.
Ein einzelnes Wort fand seinen Weg aus Jennas Kehle:
„Anna."

Von Schluchzern geschüttelt stützte sie sich an der Wand ab, um nicht an Ort und Stelle zusammen zu brechen. Stumm bedachte Lucian das blutige Massaker mit einem grimmigen Blick, dann wandte er sich seiner entsetzten Frau zu.

Er hatte die Zofe seiner Freundin nicht gekannt, doch er wusste, dass Anna für sie wohl einer Mutter am nächsten kam.

Vorsichtig zog er sie von der Wand weg und drehte sie zu sich, damit sie das Blutbad hinter sich nicht sehen musste, dann schloss er sie in die Arme. Sie wurde von schweren Schluchzern geschüttelt, während ihre Tränen sein Oberteil durchnässten und sie verzweifelt „Anna.", wiederholte.

Hilflos sah Lucian auf seine weinende Frau hinab.
„Jenna.", versuchte er, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, doch sie presste nur ihr nasses Gesicht in seine Halsbeuge. Sanft hob er sie hoch und trug sie über den blutigen Leichnam in ihr Zimmer, wo er sie auf das Sofa legte.
„Bitte geh nicht.", hauchte sie und sah ihn an. Lucian konnte ihr nicht in die Augen sehen, es schmerzte ihn, sie so verletzt zu sehen.
„Jenna, ich muss..." Er strich ihr über die Haare.
„Ich muss jemandem Bescheid sagen, direkt vor unserer Tür wurde jemand getötet. Ich beeile mich, bleib einfach hier. Ich bin gleich wieder da."
Mit dem Daumen wischte er ihr die Tränen von den Wangen, doch immer neue flossen nach und hinterließen eine glänzende Spur. Mit einem traurigen Blick erinnerte sich Lucian an die Worte seines Vaters und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Stirn, bevor er den Raum verließ, nicht ohne ihr noch einen besorgten, mitfühlenden Blick zuzuwerfen.

Jenna starrte nur auf die Tür, die sich gerade hinter ihrem Mann geschlossen hatte und hinter der Annas lebloser Körper in einer Pfütze aus Blut lag, das gemeinsam mit ihrem Leben aus ihr entwichen war.
Oder war Blut das Leben? Oder war es die Seele, die jetzt vom sterblichen Körper befreit ihresgleichen suchte? Hatte man überhaupt eine Seele?
Jenna wusste es nicht. Es war ihr auch gleichgültig. Alles war ihr gleichgültig. Sie spürte nur eine unfüllbare Leere in sich, ein schmerzendes Loch, das entstanden war, als man ihr Anna genommen hatte. Sie fühlte sich, als hätte sie selbst eine blutende Wunde in ihrem Herzen, die nur durch tröstende Worte ihrer geliebten Zofe geschlossen werden konnte. Doch die war tot. Ermordet.

Ihre Tränen begannen erneut zu fließen.

Warum sollte jemand Anna umbringen? Sie hatte es nicht verdient.
Anna war die liebevollste und unschuldigste Person, die ihr je begegnet war. Ihr ganzes, brutal beendetes Leben hatte sie sich um andere gekümmert, hatte immer Jennas Bedürfnisse über ihre eigenen gestellt. Es hätte eher die selbst treffen sollen, als ihre Zofe, die sie durch ihr gesamtes Leben begleitet hatte, die immer an ihrer Seite gestanden hatte, wenn ihr Schützling sie brauchte. Jenna wusste nicht, wie sie den Rest ihres Lebens ohne Annas Unterstützung schaffen sollte.

Sie ignorierte die Tränen, die über ihr Gesicht liefen und von ihrem Kinn tropften und erhob sich wie in Trance.
Sie öffnete die Tür und trat heraus, dann ließ sie sich neben der Leiche auf die Knie fallen und legte verzweifelt ihren Kopf auf Annas Brust, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Kleider sich mit Blut voll sogen.

Als Lucian ein paar Minuten später mit seinem Vater und zwei Soldaten die Treppe hinauf kam, fand er seine Frau in derselben Position. Er bedeutete den Soldaten zu warten und setzte sich leise neben seine Frau.
„Jenna.", sagte er sanft und strich ihr tröstend mit der Hand über den Rücken. Nach einer Weile regte sie sich und sah zu ihm auf.
Ihre Augen waren vom Weinen getötet und ein Blutstreifen zog sich von ihrem Ohr quer über die Wange.
Lucian stützte sie und half ihr vorsichtig auf, sie klammerte sich nur dankbar für seine Unterstützung an ihn.
„Sie ist kalt Lucian. So kalt.", hauchte sie mit zittriger Stimme.
„Man hört ihr Herz nicht schlagen."
Sie schluchzte bei ihren Worten erneut auf und Lucian trug sie wieder ins Zimmer, wo sie leise weinte.

Lucian befahl zwei Dienerinnen, die Badewanne zu füllen und wies die Soldaten an, die Leiche weg zu tragen, zu untersuchen, für die Beerdigung bereit zu machen und das Blut von den Stufen zu entfernen, dann sah er erwartungsvoll seinen Vater an.
Grimmig blickte dieser zurück, doch gleichzeitig war sein Blick sanft.
„Du hast heute viel gelernt, Lucian. Kümmere dich jetzt um deine Frau."
Dankbar nickte der Prinz dem König zu und ging zu Jenna.

JennaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt