20.

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Jenna erwachte und sah Lucian vor sich, der ihr beim Schlafen zugesehen und mit einer ihrer Haarsträhnen gespielt hatte.
„Morgen.", gähnte sie verschlafen und streckte sich.
„Ohne Kleid gefällst du mir noch viel besser als mit.", stellte Lucian grinsend fest und zog mit seinem Zeigefinger Kreise auf ihrem nackten Rücken. Sie räkelte sich unter seiner Berührung und grinste zurück:
„Das habe ich gemerkt."
Sie hatte sich gerade wieder an ihn gekuschelt, als es an der Tür klopfte und die Stimme des Königs zu ihnen hereindrang:
„Lucian? In zehn Minuten in meinem Arbeitszimmer!"
Bevor sein Sohn ihm antworten konnte, entfernten sich seine eiligen Schritte bereits wieder und Lucian rollte sich seufzend aus dem Bett. Er schlüpfte in seine Klamotten, schnappte sich ein Stück Brot vom Tisch und seufzte erneut.
„Ich geh dann mal arbeiten." Demonstrativ wickelte seine Frau sich in die Decke und sah ihn frech an.
„Und ich bleibe noch ein bisschen im Bett liegen.", verkündete sie.
„Dieses Mitgefühl...", murmelte der Prinz, warf ihr aber noch einen liebevollen Blick zu, bevor er zur Tür hinaus rauschte und die Treppe hinunter eilte.
Trotz Jennas Plan, mindestens bis zum Mittag im Bett zu bleiben, wurde ihr bald langweilig und sie überlegte, wie sie ihren Tag alleine verbringen konnte, während sie sich anzog. Beim Frühstück kam ihr die Idee, sich die Teile des Schlosses anzusehen, die Lucian ihr nicht gezeigt hatte, was gesamt Fandrum Sitëa beinhaltete. Es interessierte sie, wie das Leben der ärmeren Burgbewohner aussah, doch zuvor holte sie sich ein helles Leinenkleid und einen dunklen Umhang mit einer großen Kapuze, sie musste ja nicht unbedingt als Prinzessin durch die dunkle Stadt stolzieren. Kaum, dass sie aus dem Bergfried getreten war, tauchte sie in der Menge unter und setzte die Kapuze auf, die einen ihr Gesicht verbergenden Schatten auf sie warf. Aus Gewohnheit nahm sie den östlichen Maueraufgang, stieg aber diesmal nicht bis zu den Wachräumen, sondern bog im ersten Stock nach rechts ab. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hingehen sollte, hielt es aber für klüger, so zu tun, als wüsste sie, wo ihr Ziel lag. Nur leider hatte sie nicht mal ein Ziel.
Die verzweigten Gänge von Fandrum waren eng und dunkel, immerhin konnte man in eine Mauer mit Schutzfunktion nicht einfach Fenster einbauen. Es war unschwer zu riechen, dass viele Menschen hier eng beieinander lebten, aber es war besser, als Jenna erwartet hatte, ebenso, wie man den Leuten ihre Armut zwar ansah, aber niemand dem Hungertod nah zu sein schien. Fandrum wirkte dank der vielen verschlungenen Wege viel größer, als die Wehrmauer von außen betrachtet vermuten ließ, doch trotz der zahlreichen Abzweigungen fand Jenna sich in einer Sackgasse wieder. Sofort machte sie wieder kehrt und ging zurück, doch an die Wand gelehnt stand ein alter Mann, der sie misstrauisch ansah. Er hatte Dreck im Gesicht und wirkte insgesamt heruntergekommener als die anderen Mauerbewohner. Seine Anwesenheit verunsicherte die junge Prinzessin, doch sie versuchte, so zu tun, als hätte sie ihn nicht bemerkt und einfach an ihm vorbeizugehen.
„Habt ihr Euch verlaufen?", erklang seine krächzende Stimme und sie zuckte kaum merklich zusammen, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Vom Schatten ihrer Kapuze verborgen sah sie sich unauffällig um, doch außer ihr und dem gruseligen Alten befand sich niemand im Gang.
„Ähm, nein ich... Ich suche jemanden." Der scharfe Blick des Mannes, der auf ihr ruhte, bekam eine interessierte, aber irgendwie schadenfrohe Nuance. Jenna bereute es, keine Waffe mitgenommen zu haben.
„Dieser jemand, den Ihr sucht... Sind die Goldmünzen in Eurer Tasche für ihn gedacht?"
Unwillkürlich umklammerte sie mit ihrer rechten Hand die kleine Tasche, die auf der Innenseite ihres Umhangs genäht war und in der sich die Münzen befanden, die sie eingesteckt hatte. Sofort schoss der gierige Blick des Alten, von ihrer Bewegung aufmerksam gemacht, zu ihrer verkrampften Hand. Um das Gold machte sie sich keine Sorgen, davon hatte sie mehr als genug, vielmehr fürchtete sie, wie der Mann das Geld aus ihrer Kleidung holen wollte. Er löste sich von der Wand und macht einen Schritt auf sie zu, wobei sie sich zwingen musste, nicht zurückzuweichen, da alle ihre Instinkte ihr rieten, so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Sein stechender Blick glitt berechnend über sie, auf der Suche nach einer Waffe.
Als er keine sah, grinste der Alte siegessicher und fixierte die Tasche mit dem Gold. Im Schein einer der an der Wand angebrachten Fackeln sah Jenna den unverwechselbaren Stahl einer Messerklinge aufblinken, deren Griff sich in der verdreckten Hand des Mannes befand. Ihren Instinkten die Kontrolle überlassend drehte sie sich um und rannte.

JennaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt