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Lange umkreisten sie sich nur und suchten den anderen nach winzigen Fehlern in der Haltung ab, die sie nutzen konnten, ab und zu gab es einen schnellen Austausch von zwei-drei klirrenden Schlägen, dann zogen sich beide wieder ein wenig zurück. Aus ihren Blicken und ihrer Haltung sprach Erfahrung, jeder Schlagabtausch diente nur dazu, den anderen aus der Reserve zu locken, sie kannten sich einfach zu gut, hatten schon zu oft gegeneinander gekämpft, um einen offenen Kampf zu wagen.
„Jetzt kommt schon, Eurem Mädchen wird noch langweilig.", stichelte Tax, allerdings starrte Jenna wie gebannt auf die beiden, da sie sich die geistige Anspannung und den Kraftaufwand für so viel Konzentration vorstellen konnte. Lucians rechter Mundwinkel zuckte bei dieser Bemerkung kurz und sofort zog die Bewegung den aufmerksamen Blick des Trainers auf sich. Lucian nutzte dies aus und seine Schwerthand schoss auf Tax' Bauch zu. Tax sprang zurück und seine Rüstung wurde nur kurz von dem scharfen Stahl gestreift. Endlich brach die aufgebaute Anspannung aus den Kämpfenden heraus und sie wirbelten umeinander, umgeben von einem glänzenden Schild aus Schwertklingen.
Aufmerksam beobachtete Jenna, wie selbst kleinste Bewegungen, ein Zucken des Fingers, das Schwert ein wenig drehte und in eine andere Richtung brachte. Und Lucians Fingerspitzengefühl und Erfahrung brachten sein Schwert dazu, genau das zu tun, was er wollte, es war wie eine Verlängerung des Arms. Schließlich gelang es ihm, Tax mit einer leichten Drehung des Handgelenks zu entwaffnen.
Anerkennend verneigten die beiden sich voreinander, dann verabschiedeten sich Jenna und Lucian und gingen wieder nach oben.
In der Eingangshalle des Gebäudes stand der König und kam ihnen entgegen, als er sie sah.
„Lucian!", donnerte er.
Der Angesprochene trat vor und neigte respektvoll den Kopf, anscheinend war Malcolm als König zu ihm gekommen, nicht als Vater.
„Was zur Hölle tust du?", fragte der König aufgebracht.
„Ich genieße den freien Tag, den ich meiner Frau versprochen habe.", antwortete der Prinz fast trotzig.
„Heute wurde jemand getötet, in meinem Land, in meinem Haus, das irgendwann das deine sein wird und du alberst lieber mit deiner Freundin herum?"
Lucian wollte etwas erwidern, doch Malcolm fuhr bereits fort:
„Verstehst du das nicht? Der Mörder war hier, sofern es der Mörder der drei in Fandrum Sitëa war, hier im Schloss, er ist problemlos und unbemerkt hier rein und wieder raus, verstehst du diese Gefahr nicht? Wir haben keinen einzigen Hinweis!
Du musst endlich lernen, das Volk über dich zu stellen. In Krisenzeiten, wie wir sie gerade haben, kannst du dich nicht einfach verkriechen, du kannst dich nicht erst um deine Familie sorgen, sondern musst für ein ganzes Land da sein. Natürlich wird dieses Land irgendwann dir gehören, aber dann gehörst du dem Volk!"
Lucian hatte dem Ausbruch seines Vaters mit ausdrucksloser Miene gelauscht, jetzt fragte er leise:
„Und mit welchem Recht beansprucht das Volk mich?"
Ernst sah der König ihn an.
„Mit deiner Geburt, Lucian. Ihr Recht ist das königliche Blut in deinen Adern."
Ohne ein weiteres Wort drehte der König sich um und verschwand.
Schweigend starrte Lucian ihm hinterher. Sein Blick war ausdruckslos, doch Jenna konnte es beinahe in seinem Kopf rattern hören.
„Lucian.", flüsterte sie sanft und trat nah vor ihn. Sie sah zu ihm auf und strich mit den Fingern über seine Wange, bis sie ihre Hand dort ruhen ließ. Traurig sah er sie an.
„Ich wollte das nie.", sagte er mit erstickter Stimme.
„Aber bevor ich dich getroffen habe, war mir das nicht klar. Ich hatte mich achtzehn Jahre lang darauf vorbereitet, eines Tages König zu sein und dann kamst du. Ich möchte nur noch bei dir sein, dich zum Lachen bringen, für dich da sein, wenn du jemanden brauchst, dich beschützen. Aber wie...?"
Am Ende versagte seine Stimme. Tröstend lehnte sie sich an ihn und er legte die Arme um sie.
„Aber du beschützt mich doch. Geh zu deinem Vater und hilf ihm. Du kannst dafür sorgen, dass ich im ganzen Land sicher bin. Sag mir nur, wie ich dir helfen kann, ich möchte dich unterstützen. Was soll ich machen?"
Dankbar küsste er sie.
„Pass einfach auf dich auf.", murmelte er in den Kuss. Langsam löste er sich wieder von ihr.
„Bleib heute hier im Schloss und halte dich an Orten auf, wo viele Leute sind, da würde niemand es wagen, dir etwas zu tun. Ich gehe zu meinem Vater. Ich werde den Mörder finden und aufhalten." Sie nickte und küsste ihn noch einmal, dann lief er davon, in die Richtung, in die der König verschwunden war.

Gelangweilt verbrachte Jenna den Rest des Tages allein. Zwar waren überall Leute, doch sie hatte nicht das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, also strich sie nur ruhelos umher, trank einen Kaffee, aß etwas und las ein Buch in der Bibliothek, wo Lucian sie schließlich fand. Nachdem er die Bibliothek betreten hatte, wirkte er kurz ein wenig verwirrt und orientierungslos, schüttelte dann aber entschlossen den Kopf und setzte sich zu seiner Frau. Jenna las die Zeile fertig, dann klappte sie das Buch zu und sah ihn an.
„Und?", fragte sie erwartungsvoll, doch er verzog nur säuerlich das Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Nichts. Wir sind keinen Schritt weiter als vor einer Woche."
Er seufzte und stand auf.
„Lass uns hoch gehen."
Sie nickte und erhob sich ebenfalls, dann stellte sie ihr Buch zurück in ein Regal und ging mit ihm die Treppe hinauf. Schweigend ging sie voraus, die Wendeltreppe entlang, doch kurz vor ihrem Gemach blieb sie plötzlich stehen.
„Was ist?", fragte Lucian irritiert, da er nicht an ihr vorbei sehen konnte, doch sie starrte nur in sprachlosem Entsetzen auf den Anblick, der sich ihr auf den Stufen vor ihrem Zimmer bot.

JennaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt