8. Der Brief

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Sofort sprang Jenna auf und öffnete schwungvoll die Tür. Verwundert und ein wenig erschrocken sah ihr Vater sie an. „Guten Morgen, Vater.", begrüßte sie ihn gut gelaunt. „Äh... Guten Morgen.",antwortete der Lord etwas überrumpelt. „Der Brief liegt in deinem Zimmer auf dem Tisch." Als Jenna loslief, trat Nathaniel gerade aus der Tür. „Erwartest du etwas? Oder jemanden." Den letzten Teil murmelte er, doch sie hatte auch seine erste Frage nicht gehört, da sie bereits um die Ecke verschwunden war.
Mit gerafften Röcken flitzte sie den Gang entlang zu ihrem Zimmer und riss die Tür auf. Tatsächlich lag auf ihrem Tisch ein Umschlag aus feinem Pergament, den sie sich schnappte und sich auf das Sofa fallen ließ. Gespannt drehte sie den Umschlag um und hielt inne, als sie das Wachssiegel sah, das den Brief verschloss. Mit einem Siegelring in Wachs eingraviert prangte dort ein Löwe, umgeben von einem Flammenkranz. Das Zeichen der Königsfamilie.
Erstaunt betrachtete sie den Umschlag in ihren Händen. Sie wusste nicht, ob sie aufgeregt oder enttäuscht sein sollte. Auf der einen Seite hatte ein Mitglied der Königsfamilie dieses Dokument verfasst, andererseits war es nicht von L.
Vorsichtig brach sie das Siegel und öffnete andächtig den Umschlag, dann zog sie den Briefbogen heraus. In das Papier waren getrocknete Blütenblätter mit eingepresst, über die sie erstaunt strich, bevor sie das Schreiben aufklappte. In feiner Handschrift stand dort geschrieben:

Liebste Jenna,

Bei dieser Anrede schossen ihre Augenbrauen in die Höhe. Sie konnte sich nicht erinnern, den König jemals kennengelernt zu haben. Den Prinzen sah man insgesamt selten. Gespannt las sie weiter.

Ich möchte hiermit mein Versprechen einlösen, mich bei Euch zu melden. Es wäre mir eine Freude, könntet ihr mir am Nachmittag des heutigen Tages im Park des Schlosses Rehingard Gesellschaft leisten. Mit ist bewusst, dass diese Anfrage sehr kurzfristig ist, doch kann ich es nicht länger erwarten, Euch wieder zu sehen. Ihr nehmt keinerlei Schuld auf Euch, sollte es Euch nicht möglich oder Ihr nicht gewillt sein, meiner Bitte folge zu leisten.
Ich hoffe auf ein baldiges Wiedersehen,
L.

Regungslos starrte Jenna auf das Blatt, dann las sie den Text ein weiteres Mal. Langsam erreichten die übermittelten Informationen ihr Bewusstsein. Der Brief war von ihm, L. Und er wollte sie sehen, heute, im Schlosspark. Und er war der Prinz. Den König hatte sie bei Ansprachen bereits gesehen, er war wesentlich älter als der Mann, dem sie gestern begegnet war. Seinen Sohn hatte der König vor der Welt verborgen, seit die Königin gestorben war, ihn hatte noch nie jemand gesehen. Andere Mitglieder hatte die Königsfamilie zur Zeit nicht.
Sie ließ sich tiefer in das weiche Sofa sinken und starrte an die Luft. Das musste sie erst einmal verarbeiten.
Kurz darauf klopfte es zögerlich an ihrer Tür und Nat kam herein. „Jenna, alles in Ordnung bei dir?", fragte er, als er sie so auf dem Sofa sitzen sah. Plötzlich kam Leben in sie. „Wie spät ist es?", rief sie aufgeregt, während sie aufsprang und hektisch in ihr Zimmer rannte. „Ungefähr Mittag. Wieso?" Er beobachtete, wie sie wieder aus ihrem Zimmer kam, mit einer Haarbürste in der Hand, mit der sie durch ihre leicht gewellten, braunen Haare fuhr. „Hab noch was vor.", erklärte sie wenig aufschlussreich. Ihr Bruder sah, wie sie mit der Bürste an ihren Haaren riss und hielt sie kurzentschlossen fest, dann nahm er ihr die Bürste aus der Hand und fing an, sanft die Knoten zu lösen. „Was hat du denn vor, wenn ich fragen darf?", versuchte er, weitere Informationen aus ihr heraus zu bekommen. „Ich wollte in den Park." „Mhm. Und was führt dich zu dieser kurzfristigen Entscheidung?", fragte er weiter. „Nur ein bisschen frische Luft schnappen." Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Nathaniel eine Augenbraue hob. „Und deshalb springst du auf einmal auf, reißt dir deine Haare aus und wärst am liebsten schon gestern zur Tür raus gewesen?", fragte er misstrauisch. „Also erstens hab ich mir keine Haare ausgerissen, sondern sie gekämmt. Und zweitens möchte ich halt jetzt raus." Er drückte ihr die Bürste in die Hand und sah sie an. „Wenn du meinst." Er glaubte ihr kein Wort. „Sei vorsichtig." Seine Schwester umarmte in stürmisch. „Sag aber bitte noch nichts Papa, ja? Der Brief liegt auf dem Tisch." Sie huschte zur Tür hinaus und ließ ihn kopfschüttelnd stehen. Er seufzte. Tatsächlich hatte er so eine Ahnung, dass ihr Verhalten mit dem seltsamen Typ von gestern Abend zusammen hing. Vielleicht war es falsch, doch er konnte ihr ihre Bitte nicht ausschlagen. Erneut seufzend setzte er sich und las den Brief.

JennaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt