10. Drachenschuppen

43 9 0
                                    

„Wo gehen wir hin?", fragte sie neugierig.
„Gerade aus, dann rechts, dann links, wieder links, rechts, links-"
Er wurde von ihrem Kichern unterbrochen.
„Okay, ich sehs ein. Eine Überraschung."
Zufrieden grinste er.
„Es wird dir gefallen, vertrau mir."
Er wollte weitergehen, doch sie hielt seine Finger umklammert. Verwundert drehte er sich um und blickte sie fragend an.
„Lucian.", sagte sie leise. „Das tue ich."
Er sah sie überrascht an.
„Ich..."
Er wusste nicht, was er sagen sollte, deshalb sah er sie nur gerührt an, dann nahm er sie in den Arm.
„Ich hoffe nur, ich bin deines Vertrauens würdig.", murmelte er in ihre weichen Locken, wobei seine Lippen ihr Ohr berührten.
„Das bist du. Ganz bestimmt."
Sie sah ihn entschieden an, dann lächelte sie wieder.
„Du wolltest mir etwas zeigen."
Er nickte und nahm wieder ihre Hand. Auf ihrem Weg durch die Gänge des Schlosses begegneten sie niemandem. „Das ist eher so eine Art Geheimweg von mir, den ich entdeckt habe, als ich keine Lust mehr auf die Hektik hier hatte.", erklärte Lucian.
„Hast du schon mal einen Drachen gesehen?"
Verneinend schüttelte Jenna den Kopf. „Einen richtigen Drache habe ich leider auch nicht im Angebot, aber...", feierlich öffnete er die Tür vor der sie stehengeblieben waren und bedeutete ihr, einzutreten.
„...die Haut eines erlegten Drachen.", vollendete er seinen Satz.
In dem kleinen Raum befand sich tatsächlich nur ein Kamin und an der gegenüberliegenden Wand hingen die schillernden Schuppen einer Drachenhaut.
Ehrfürchtig starrte Jenna auf die grünen Schuppen.
„Aber es ist Jahrzehnte her, dass ein Drache gesehen, geschweige denn besiegt wurde."
Der Prinz trat hinter sie.
„Dieser Panzer ist auch schon ein bisschen älter. Kennst du die Geschichte vom grünen Feuer?"
Jenna erinnerte sich an eine Geschichte, die Anna ihr erzählt hatte, als sie noch kleiner war.

Ein Mann hatte eine sterbenskranke Frau, die nicht geheilt werden konnte, doch die Legende besagte, dass Drachenblut, jede Krankheit und jede Wunde heilen konnte. Also suchte der Mann einen Drachen. Nach zwei Jahren fand er in den Bergen einen riesigen, grünen Drache, vom Volk wurde er, aufgrund seiner Zähne, Reißer genannt. Der verzweifelte Mann bat ihn um einen Tropfen seines Blutes und Reißer willigte ein, verlangte jedoch als Gegenleistung die Herrschaft über das Land. Verzweifelt willigte der Mann ein, er wollte nur seine Frau retten. Mit einem Tropfen Blut kehrte er nach Hause zurück, heilte seine Frau und vergaß den Drachen. Der Drache hatte erst durch den selbstsüchtigen Mann die Stadt gefunden, in die er nun einfiel. Er zerlegte alles in Schutt und Asche, verbrannte die Häuser und Felder, Bauern, Gelehrte und Adlige, bis zum König. Der junge Prinz musste mit ansehen, wie der Drache, inzwischen 'Der grüne Tod' gennant, seinen Vater am Stück verschlang. Nach langem Kampf gelang es ihm, einen brennenden Pfeil in das geöffnete Maul des Drachen zu schießen, der den Feuermagen erreichte und den Drachen von innen verbrannte. Das Fleisch und die Knochen des Drachen zerfielen zu Asche, nur sein grüner Panzer blieb übrig.

Jenna schluckte. Die Geschichte konnte doch nicht wahr sein. Zufrieden betrachtete Lucian die Erkenntnis in ihrem Gesicht.
„Das ist Reißers Schuppenpanzer.", sagte er leise. Langsam streckte Jenna ihre Finger aus, doch als sie das schimmernde Grün fast berührte, ging eine Bewegung durch die Haut und die einzelnen Schuppen verschoben sich zu einer geschlossenen Wand. Erschrocken zog sie ihre Hand weg und trat einen Schritt nach hinten. Sie prallte gegen Lucians muskulöse Brust, der noch immer hinter ihr stand. Schnell hielt er sie fest, damit sie nicht hinfiel, dann erklärte er:
„Drachen können ihre Schuppen kontrollieren, wusstest du das? Deshalb kann man keinen Pfeil zwischen Schuppen schießen, weil diese sich einfach verdichten."
Mit fasziniert glänzenden Augen starrte er auf die Haut.
„Und die Haut reagiert selbst nach dem Tod noch, außer sie nimmt einen anderen Drachen war. Schau."
Von einem kleinen Tisch nahm er ein Messer mit einer Klinge aus hellem Gebein.
„Das ist ein Drachenzahn.", erklärte er, während er mit dem Messer die Schuppen berührte. Es klackerte, als würde die Klinge über Stahl fahren, doch mit einer schnellen Fingerbewegung schnitt der Prinz eine einzelne Schuppen heraus. Sofort versuchten die restlichen Schuppen, das Loch zu schließen, doch eine kleine Lücke blieb. Lucian legte das Messer weg und reichte Jenna die glänzende Schuppe.
„Darfst du die Drachenhaut denn einfach so zerschneiden?", fragte sie ihn verwundert und nahm die kalte Schuppe zwischen ihre Finger. Sie fühlte sich an wie geschliffener Stein. „Niemand außer mir kommt hierher.", beruhigte sie der Prinz.
„Abgesehen von dir.", lächelte er und gab ihr einen schnellen Kuss, dann schloss er ihre Finger über der Schuppe.
„Ich möchte sie dir schenken. Behalte sie."
„Wow, danke.", sagte sie erstaunt. Eine Drachenschuppe war etwas, das ihr niemand sonst schenken konnte. In Lucian hatte sie jemanden gefunden, der verstand, dass Geld nichts bedeutete. Glücklich lächelnd und die Schuppe fest umschlossen küsste sie ihn erneut, dann brachte er sie zurück in den Garten, wo sich ihre Wege trennten und sie sich für den nächsten Tag verabredeten.

JennaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt