Der Tag neigte sich langsam dem Ende zu. Ich sah die letzten Sonnenstrahlen die Berge in ein warmes Licht tauchen, bis auch dieses Licht schließlich verschwand und mich alleine in der Dunkelheit zurückließ. In der kalten Stille, die mein Herz umgab. Konnte man sein Schicksal ändern? Konnte ich dem entkommen, oder war ich hier gefangen bis zu meinem bitteren Ende? Fragen über Fragen, deren Antworten ich lieber nicht wissen wollte. Denn meist waren die Antworten, die man mir gab nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Nie konnte ich ganz dahinter blicken.
Aber ich musste aufhören vor mich hin zu grübeln und endlich etwas tun. Es musste hier doch irgendeinen Ausweg geben. Ich durfte jetzt nicht aufgeben, nicht wo ich so kurz davor war, mutig zu sein und etwas zu wagen, von dem ich früher nicht einmal geträumt hätte. Diese Möglichkeit würde ich nie wieder haben, ich musste sie ergreifen nicht nur für mich, sondern auch für die, die ich liebte. Meine Mutter, meinen Vater, meine Geschwister. Alle hatte ich verloren, weil ich nicht mutig genug gewesen war. Die Erinnerungen daran waren verschwommen, nur ein kleiner Punkt in meiner Vergangenheit. Doch ich war daran Schuld und ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich nicht die Chance hätte es wieder gut zu machen. Irgendwie. Auch wenn ich sie dadurch nicht wieder zum Leben erwecken konnte.
Langsam ging ich zur Tür und drückte die Klinke hinunter. Mit einem leisen Qietschen öffnete sie sich. "Danke.", flüsterte ich in die Stille hinein.
Jetzt oder nie. Eilig hastete ich den Gang hinunter, während mein Kleid viel zu laut raschelte. Ich lief immer schneller und schneller, bis ich keine Luft mehr bekam. Adrenalin pumpte durch meine Adern. Ich würde es schaffen. Ich musste es schaffen.
"Hast du es schon gehört?"
Schnell versteckte ich mich in in einer kleinen Nische. Mein Herz pochte verräterisch laut, ich hoffte nur das sie es nicht hören konnten.
"Du weißt schon, von dem Mädchen." Redeten sie etwa von mir? Ihre Lichter entfernten sich wieder in weite Ferne, doch ich wartete lieber noch eine Weile, bis ich wieder hervorkam. Ich rannte direkt in eine große Gestalt hinein. Vor Schreck wich ich einen Schritt zurück, aber es war nicht Marcus. Erleichtert atmete ich auf.
"Warum tust du das für mich?", fragte ich ihn leise.
"Weil ich die noch etwas schuldig bin und jetzt komm, wir haben nicht viel Zeit." Ich versuchte mit ihm Schritt zu halten, obwohl mir dieses Kleid das fürchterlich erschwerte. Was konnte er mir schuldig sein? Ich hatte doch gar nichts für ihn getan. Plötzlich musste ich niesen. Der Nieser hallte lautstark durch die Gänge.
"Es gab wohl keinen schlechteren Zeitpunkt als jetzt, für dich zu niesen, oder?" Er hatte recht, warum musste mir das genau jetzt passieren?
"Komm, wir müssen weiter." Er nahm mich bei der Hand und zog mich eilig Richtung Ausgang. Doch wir waren zu spät. Marcus stand bereits mit einigen Wachleuten davor.
"Hattest du wirklich gedacht, mir entkommen zu können?"
"Du hast doch nicht wirklich gedacht, das ich so schnell aufgebe, Großvater!"
Er warf einen mürrischen Blick auf seinen Enkel.
"Nein, weil du genau so sturr wie deine Mutter bist!" Die beiden schienen einen uralten Streit wiederauszugraben, aber dafür hatte ich jetzt keine Zeit. Er hielt meine Hand noch immer fest gedrückt, während er mit der anderen nach einem Gegenstand in seiner Tasche griff.
"Bist du bereit?" Bereit dür was?
"Wage es ja nicht, das zu tun, mein Enkel."
Bevor Marcus noch etwas sagen konnte drückte er auf die Kette und alles verschwamm. So wie in dem Tagebuch meiner Großmutter. Geschichten wiederholten sich immer wieder, wenn man nicht aufpasste.
Wir standen wieder im Wald und ich zog die kühle Nachtluft mit Freude ein. So lange war ich hinter den Mauern des Palastes gefangen gewesen und jetzt war ich endlich frei. Er lächelte ein wenig und ich stimmte mit ein, als ich bemerkte, wo wir gelandet waren.
"Hier hat alles angefangen. Aber jetzt musst du ohne mich weiter." Ich sah ihn mit einem besorgten Blick an.
"Na los, hau schon ab und sag meinen Bruder Liebe Grüße." Ich starrte ihn etwas perplex an. Seinem Bruder?
"Sag nicht, das es dir nicht aufgefallen ist, Kara." Er schenkte mir noch ein kleines Lächeln, bevor er wieder verschwand und mich mit meinen verwirrenden Gedanken allein ließ.
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Deadly Touch
Fantasía'Eine einfache Berührung. Mehr braucht es nicht.' Kara ist schon ihr ganzes Leben lang auf der Flucht vor sich selbst. Seit ihre Eltern unter mysteriösen Umständen gestorben sind, lebt sie bei einer Pflegefamilie. Doch wie soll sie Freunde finden...