Kapitel 35 - Charlston Industries

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Am nächsten Morgen wurde ich unsanft geweckt. Eine Hand klatschte auf meine Wange und riss mich aus dem tiefen Schlaf. Eine ungeschickte, feuchte, kleine Kinderhand.

Ich öffnete gequält die Augen und blickte in Scotts Gesicht. Ja, Coles vierjähriger Cousin stand neben meinem Bett und sah mich mit dem goldigsten Lächeln an. „Gott, Scott. Was... was machst du hier?" fragte ich sichtlich verwirrt.

Mein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es bereits halb elf war, trotzdem erklärte das nicht, was der kleine Junge in unserem Haus und noch dazu in meinem Zimmer machte. Will, Lorelai und die Kinder kamen uns nur selten besuchen, sie waren beide sehr beschäftigt mit ihren Jobs und so fanden sie nur selten Zeit.

„Daddy muss mit dir reden!" plapperte Scott fröhlich drauf los. Ich schrak hoch. Das Praktikum... ich hatte es ganz vergessen! Will war bestimmt hier, um eine endgültige Entscheidung von mir zu hören...

Cole war nun auch wach und blickte seinen Cousin verstört durch zu Schlitzen geformte Augen an. „Was zur Hölle...?" er schüttelte den Kopf, wie wenn er nicht richtig sehen würde.

„Will möchte bestimmt eine Entscheidung von mir, wegen dem Praktikum!" ich sah Cole verzweifelt an. Bei diesem Satz war mein Freund plötzlich hellwach. „Du musst es machen" meinte er entschlossen und setzte sich zu mir auf.

Ich biss mir nervös auf der Lippe herum. Drei Monate, in einer fremden Stadt, mit größtenteils fremden Leuten um mich herum.

Aber ich war mir sicher, dass ich etwas im Marketing/PR-Bereich machen wollte und dies war wie ein Sprungbrett, wenn man in seinem Lebenslauf ‚Praktikum bei Charlston Industries' stehen hatte, wurde man in jeder Firma angenommen, das stand außer Frage.

Wir schickten Scott nach unten, während Cole und ich uns anzogen. „Es sind drei Monate Cole..." zweifelte ich, als ich mir gerade ein Shirt überzog. Cole atmete lächelnd aus, dann kam er zu mir. Er nahm mein Gesicht in seine Hände und sah in meine Augen.

„Babe, ich kenne dich seit fast einem halben Jahr und ich bin jeden Tag fast vierundzwanzig Stunden mit dir zusammen. Wenn dich jemand kennt, dann also ich. Und wenn ich etwas über dich weiß, dann ist es, dass du es liebst, Dinge zu organisieren, dass du das beste Timing überhaupt hast, dass du immer schon Werbung für Personen, Dinge oder Firmen machen wolltest und dass du das besser kannst als alles andere."

"Dass du die Leute beeinflussen und zu allem überreden kannst; dass du alles, egal wie schlecht es in Wahrheit ist, gut darstellen kannst und dass du das eines Tages zu deinem Beruf machen willst und dir nichts anderes vorstellen kannst. Und das, meine Liebe, ist eine einmalige Chance und es gibt keinen Grund, die nicht anzunehmen."

Nach Coles Worten entschloss ich, das Praktikum zu machen und mir somit einen Grundstein für meine Zukunft zu setzen. Mit Dad hatte ich zwar über das Praktikum geredet, aber ich hatte eher Andeutungen gemacht, es nicht anzunehmen. Natürlich musste Dad seine Zustimmung geben aber ich war mir ziemlich sicher dass er das tun würde, da er wusste wie wichtig mir das war.

Kurze Zeit später standen Cole und ich geduscht, mit geputzten Zähnen und angezogen im Wohnzimmer. Es hatte ein wenig länger gedauert, da ich mich zehn Minuten lang mit einem beleidigten Cole rumschlagen musste, weil er nicht mit mir duschen durfte, das hätte mich nur aufgehalten.

„Hailee, Liebes, wie geht's dir? Du siehst fantastisch aus!" flötete Lorelai und nahm mich in die Arme. „Danke, so geht es mir auch. Und euch?" ich sah freundlich lächelnd zwischen ihr und Will hin und her.

Nach ein wenig Smalltalk setzten wir uns an den Tisch, wo Rachel schon Frühstück vorbereitet hatte. „Also, weshalb wir eigentlich hier sind... Hailee, ich brauche eine Entscheidung von dir." Sprach Will und lächelte mich fast ein wenig aufgeregt an.

Nach Coles Worten war ich mir so sicher gewesen, doch jetzt wo ich mich entscheiden musste, liefen vor meinem inneren Auge alle Momente ab, die mich an Cole erinnerten.

Seinen Arm um meine Taille wenn ich aufwachte, seine raue Morgenstimme, sein Geruch, seine Neckereien, sein ‚O'Donell' wenn er mich ärgern wollte, seine Hand in meiner, sein Griff um meine Hüfte, wenn er mich gegen meinen Willen irgendwo hintrug, seine Besessenheit, mich Horrorfilme gucken zu lassen, nur damit ich mich an ihn kuschelte wenn ich Angst bekam.

Wie er mich ansah, wenn ich lachte, wie wenn ich der einzige Mensch auf Erden war, wie er sich nie anschnallte bis ich ihn zwang, es tu tun. Wie seine Zunge im Einklang mit meiner spielte, wie sein Mund nach meinem verlangte.

Wie er mich gegen die Wand drückte und mich dann hochhob und trug, während er mich küsste. Wie er mit mir lachte, manchmal auch über mich. Wie er nur mir seine romantische und verletzliche Seite zeigte. Wie er das ständige Verlangen hatte, mich Babe zu nennen. Wie er sich in meinen Augen verlor, wenn er mit mir sprach.

All das ging vor meinem inneren Auge in dieser Sekunde vor sich.

Dann tauchten Bilder von Rachel auf, wenn wir uns gemeinsam gegen Cole verbündeten und ihn so lange nervten, bis er tat was wir wollten. Wie sie sich um mich kümmerte, wie eine Mutter. Wie ich ihr alles anvertrauen konnte und sie mich immer aufheiterte.

Dann Ali, wie wir Cole immer gemeinsam ärgerten bis er durchdrehte, unsere Mädelsabende, die Nächte, wo wir einfach nur auf meinem Bett saßen und über alles Mögliche redeten.

Und dann Dad, wie er mich auf die Stirn küsste und mir sagte, dass alles okay sei. Wie er immer stark blieb nur um mir zu zeigen, dass ich es genauso machen sollte.

Erst in diesem Moment wurde mir klar, wie sehr wir in diesen acht Monaten, die wir nun zusammen wohnten, alle schon eine echte Familie geworden waren und schon so viel erlebt hatten. Ich konnte mir kein Leben mehr ohne diese vier Menschen vorstellen und ich liebte jeden einzelnen von ihnen auf eine ganz verschiedene Weise.

„Sie macht es. Sie will das, aber sie zweifelt daran, weil es drei Monate sind und da man Hailee immer zu ihrem Glück zwingen muss, entscheide ich das für sie. Sie macht das Praktikum." Antwortete Cole für mich.

Ich sah ihn irritiert an, er hatte wohl Recht. Aber ich war eben ein Controlfreak und musste jede einzig mögliche Folge durchdenken, eine Pro und Contra Liste machen und am Ende meine bereits getroffene Entscheidung über den Haufen werfen und spontan anders entscheiden.

Ich wusste, dass Cole die richtige Entscheidung traf, das tat er immer. Aber ich brachte es nicht übers Herz, diese vier Menschen die ich so liebte, zu verlassen, auch wenn es nur drei Monate waren.

Will sah mich fragend an, so wie wenn er auch noch ein okay von mir wollte. Dad nickte ihm zu, als Zeichen dass es für ihn okay war. Cole legte seine Hand unter dem Tisch auf meinen Oberschenkel und kniff leicht hinein.

„Okay." Nickte ich und meine Stimme war beinahe nur ein Hauch. Sechs Gesichter lachten mich zuversichtlich an und ich bemerkte, wie meine Hand zitterte. „Gut. Den Papierkram musst du erst vor Ort unterzeichnen, die Flüge bekommst du selbstverständlich von uns bezahlt, du bekommst eine eigene Vierzimmer-Dachwohnung in der Innenstadt und du wirst jeden Tag außer Samstag und Sonntag von neun bis drei bei einem unserer Mitarbeiter sein, sämtliche eigene Aufträge erledigen, Telefonate führen, auf Events mitgehen und wenn du dich gut machst sogar deine ganz eigenen Projekte bekommen."

"Pro Woche bekommst du dreihundert Euro, nur Essen und Trinken wäre selber zu bezahlen. Du hast wie gesagt Samstag und Sonntag frei, dazu kommen pro Monat noch vier freie Tage zu deiner Wahl. Deal?" Er hielt mir die Hand hin.

Das alles hörte sich so verdammt gut an in meinen Ohren, das war alles was ich tun wollte. Trotzdem zitterte ich am ganzen Körper und meine Atmung wurde unregelmäßig.

Doch als Cole meinen Kopf zu sich drehte, mir tief in die Augen sah und nickte, war ich mir sicher. Ich schüttelte Wills Hand und biss mir dann nervös auf der Unterlippe herum. „Ich freue mich." Meinte Will und lächelte zufrieden.

Rachel, Dad und Lorelai gratulierten mir auch noch und Dad meinte, wie stolz er auf mich war und dass ich wirklich hart gearbeitet hatte und dieses Praktikum verdient hatte.

Call me BabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt