Der süße Kuss des Blutes - Kapitel 1

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eit. Was ist schon Zeit? Jegliches Gefühl dafür hat sie vor Wochen schon verloren. Alles was sie hört ist das Ticken einer lauten Uhr und das Klingeln eines Schlüsselbundes, von einem der Wächter, der pfeifend seine Runden zieht. Ihre Zelle ist komplett abgedunkelt. Zusammengekauert hockt sie auf dem Boden, ihre Beine angewinkelt und die Arme darum geschlagen. Wochen, Monate, Jahre? Wie lange war sie wohl schon hier? Keiner redet mit ihr und selbst wenn sie außerhalb der Zelle ist, blendet sie überall ein Licht, dass sie nur die Silhouette der einzelnen Personen sieht. Ein paar Stimmen hat sie sich mittlerweile gemerkt. Der Doktor, der ab und an ihr Blut abnimmt, sie aufschneidet und jedes Mal erneut staunt. Kein Wunder.
Der Wächter der immer pfeift und mit seinem Bund an Schlüsseln spielt. Dann war da noch jemand. Er riecht nach Nikotin und scheint nur zu beobachten. Ein anderer bringt ihr etwas "Nahrhaftes". Als ob sie sowas anrühren würde. Sie hatte schon nach etwas Anderem gebettelt, gefleht, aber sie wurde ignoriert. Das Schlimmste ist nicht die Zeit, sie würde irgendwann hier herauskommen, aber der Hunger. Der Hunger treibt sie in den Wahnsinn. Eine Zeit lang wusste sie sich zu helfen, aber der eigene Rausch verblasst bald. Ein Fluch, den sie mit sich herumschleppt. „Verfluchte Menschen", lacht sie leise. Qual war etwas Wunderbares, aber das, was ihr die Menschen antun... Die Tür öffnet sich und ihre stockdunkle Zelle wird von grellem Licht erfüllt, was es ihr wieder unmöglich macht, die Personen zu erkennen. Sie hat es schon lange aufgegeben mit denen zu reden, sie würden ihr nie antworten. Das Klicken einer Waffe und der Lauf einer Waffe, welchen sie gleich an ihrem Kopf spürt. Ein Schmerz am Arm. Wahrscheinlich sammelt der Doktor wieder eine Blutprobe. Sie lacht. „Ich könnte jetzt aufspringen und euch beiden das Genick brechen. Ganz einfach." Sie fühlt ein leichtes zittern, Nervosität des Doktors, falls er tatsächlich einer ist, aber sie bezweifelt es kaum. „Es wäre eine sehr dumme Idee", antwortet ihr eine Stimme außerhalb ihrer dunklen Zelle. Die Stimmt strahlt eine Autorität aus, aber gleichzeitig auch etwas Geheimnisvolles. „Was hast du gesagt?" Das erste Mal hört sie wieder eine Stimme, seid...Monaten? Er regiert nicht mehr und schon bald war sie wieder allein in ihrer Zelle. Ganz allein. Wieder. Immer wieder das gleiche. Wie lange würde sie wieder allein sein? Ein paar Wochen oder doch nur einige Tage? Wann hatte sie das letzte Mal Wasser auf ihrer Haut gespürt? Ihre Haare sind total fettig und zerzaust. Schon eigenartig. Sie sitzt in Gefangenschaft seit langem und alles, woran sie gerade denkt, sind ihre Haare? Sie muss ja unheimlich dreckig sein! Einen kleinen Teil ihres alten Luxus hätte sie schon gern wieder. Wenigstens eine Dusche und eine Pralinenpackung, am besten die ihrer Lieblingsmarke, die sie so gern isst. Etwas Kleidung würde ihr mit Sicherheit auch guttun, obwohl sie ihre Nacktheit kaum stört. Dieses Schamgefühl hat sie schon lange verloren. Vor langer Zeit.
Sollte sie einen Ausbruch wagen? Wäre es nicht einen Versuch wert? Und selbst wenn sie sterben würde, wäre es nicht besser als hier zu verrotten? Oder soll sie Jahrzehnte warten, bis sich ihr eine Gelegenheit bietet? Sie seufzt. Wie war sie nur in diese missliche Lage gekommen? Ein Schrei. Der dringt dumpf zu ihr, aber dank ihres Gehörs nimmt sie doch etwas wahr. Das ist neu für sie. Was dies wohl zu bedeuten hat? Vielleicht verreckt ja einer von den Bastarden. Wer weiß, was die hier treiben. Nikotingestank dringt in ihre Nase. Jemand öffnet die kleine Luke, durch der ihr immer Essen gereicht wird. „Ich glaube, du hast lang genug hier drin gehockt." Wie verrückt springt sie auf und rennt zu der offenen Luke. „Wer...Wer ist da", fragt sie. „Willst du hier raus?" Was für eine dumme Frage. „Ja, ich will endlich hier raus!" Keine Wache zu hören. Ist das Teil eines Planes oder welches Spiel wird hier gespielt? „Unter einer Bedingung. Du arbeitest eine Zeit für mich. Deine Entscheidung."
Was soll sie tun? Annehmen ohne zu wissen was er will? „Was muss ich tun?" Das erste Mal seit langer Zeit hört sie jemanden wieder leise lachen. „Mädchen, keine Sorge, diese Aufgaben gefährden nicht dein Leben, nun, solange alles so verläuft wie ich es mir denke. Also?"
Sie willigt ein und die Tür öffnet sich. Den Mann erkennt sie nicht, dass Licht ist so grell, dass sich ihre Augen erst einmal daran gewöhnen müssen. Er führt sie an ihren Schultern durch Gänge biegt zweimal rechts ab und läuft, immer weiter. Sie hat keine Orientierung, ihr bleibt wohl nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Keiner fragt, keiner stellt sich ihnen in den Weg, niemand hält sie auf. Entweder gehört das zum Plan oder der Mann kann es sich erlauben, zu tun und zu lassen was er will. Eine schwere Metalltür geht auf. Kalte Luft weht ihr entgegen, aber dies stört sie nicht, schon lange nicht mehr. Frische Luft. Wie lange ist das her? Ist sie frei? Der Mann hängt ihr eine Jacke um, um ihre Nacktheit zumindest ansatzweise zu verbergen. „Geh ein paar Schritte." Sie tut, wie befohlen, bis ihre nackten Füße in etwas treten. Weich, kalt. Ist das... „Schnee?" Wo ist sie? Ist es gerade Winter? Langsam gewöhnen sich ihre Augen an die Umgebung. „Sibirien. Meilenweit von der Zivilisation entfernt. Weit im Osten", informiert sie der Mann. Sie entblößt ein staunendes Atmen. Eine schneeweiße Landschaft mit vielen Kiefernbäumen. Es schneit dicke Flocken. Dazu begrüßt sie noch ein wunderschöner Vollmond und eine sternenklare Nacht. Die lässt sich auf ihre vier Buchstaben in den Schnee fallen. Eine Träne rennt über ihre rechte Wange. Sie hatte ganz vergessen, wie schön die Nacht doch ist, wie wohl sie sich in der Dunkelheit fühlt, wie sehr sie die frische Luft liebt. Wortlos starrt sie in den Himmel, beobachtet dabei das Licht der Sterne und die fallenden Flocken, die sie nebenbei mit einer Hand auffängt und die trotz ihrer scheinbar blassen und kalten Haut auf ihren Fingern schmelzen. Sie lässt sich auf den Rücken fallen, in den weichen Schnee. Sterne. Schnee. Bäume. Natur. Ihre Natur. Sie hatte viel Geduld, jedoch hatte sie die letzten Wochen stark Zweifel, ob sie überhaupt hätte entkommen können. Der Mann lässt ihr die Zeit, er wusste, sie würde nicht wegrennen. Garantiert nicht SIE. „Ich bin wieder zu Hause", sagt sie in ihrer alten Stimmlage. Zuerst war der nach Nikotin riechende Mann etwas verwirrt. Ein halbes Jahrzehnt hatte er ihre wahre Stimme nicht mehr gehört. Ihre Stimme ist ruhig, sanft, sie fesselt wie ein Theaterstück von Shakespeare. Eben diese Ruhe und Sanftheit zieht ihn in den Bann. Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, dass sie so eine hypnotische Wirkung hat, aber er hat gelernt, aus solchen Bahnen auszubrechen, sie auszuschalten und seine Ziele zu betrachten. Jegliche Ablenkungen gefährden nur seinen nüchternen Verstand.
„Eine Dusche würde dir sicher guttun, was sagst du?" Eigentlich hätte sie es gern interessiert, wie ihr Retter den aussieht, aber momentan zählte das nicht für sie. „Hat das nicht noch ein bisschen Zeit?", meint sie halb geistesabwesend. Er lachte kurz und deutete den sich nähernden Männern mit Sturmgewehren an, dass alles in Ordnung sei. Wortlos und dem Zeichen gehorchend, entfernen sie sich wieder. „Unser Transportmittel trifft in etwa zehn Minuten ein. Du fliegst mit mir zu meinem Anwesen, hörst dir meinen Plan an und dann kannst du heute und morgen machen was du willst. Du hast fünf Jahre nachzuholen."
Er hätte eigentlich eine Art der erschrockenen Reaktion erwartet, aber nichts dergleichen. „Fünf Jahre war ich dort? Ist es, weil...?" Eine offene Frage, die sie im Kopf selbst beantworten kann. Der Mann nickt und fragt sich im Nachhinein warum, sie schaut doch eh in den Himmel. „Sie werden sich niemals ändern. Es wird immer so bleiben. Immer", sagt sie. Er lacht leise. „Da hast du vermutlich Recht."
Sie fängt plötzlich an zu lachen. Kein Wunder, dass sie jetzt gerade am Rad dreht, sie konnte fünf Jahre mit niemandem reden. „Es ist schön wieder da zu sein. Ich hoffe du hast was Essbares. Ich habe Hunger."

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