Der süße Kuss des Blutes - Kapitel 7

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Noch durchgeweichter kann sie kaum werden. Sie schätzt ihre Zeit etwa auf elf Uhr Abend, eine Stunde Fußweg in Regen und Gewitter, bevor sie an dem roten, Einfamilienhaus ankommt, dass ihre zeitig verstorbenen Großeltern gebaut haben.

Mit zitternden Händen kramt sie in ihrer kleinen, schwarzen Handtasche nach ihren Hausschlüssel. Sie ist durchgefroren von Kopf bis Fuß und hofft, sich keine Erkältung einzufangen. Sie verfehlt das Schloss ein paar Mal mit ihrer zitternden Hand, bevor sie es schafft, den Schlüssel in das Schloss zu schließen und langsam die Tür zu öffnen. Ihr vertrautes Heim heißt sie mit viel Wärme willkommen und von der benötigt sie gerade mehr als sie eigentlich verträgt.
Anna scheint noch wach zu sein, zumindest hat ihr dies die Zimmerbeleuchtung von außen verraten. Sie wartet jedes Mal auf Sophia und ist sowieso bis in die Nacht wach. Eine echte Nachtschwärmerin eben.
Sie befreit sich von den Schuhen und veranstaltet dabei den nötigen Lärm, der Anna schon alarmiert hat.
Anna rennt schon wie eine wahnsinnige die Treppe herunter. Zuerst grinst sie ihre klitschnasse Schwester an, jedoch zeigt sich bald darauf Besorgnis in ihrem Gesicht. „Was ist passiert?", fragt sie, ohne Sophia überhaupt Hallo zu sagen. „Egal was es ist, du nimmst jetzt erstmal eine warme Dusche, du bist bestimmt durchgefroren. Ich leg dir ein paar neue Sachen raus." Hektisch rennt sie weg um mit einem Beutel wieder zu kommen und einem Handtuch. Dort legte sie zumindest einen Teil ihrer Sachen ab, ihre Mutter und ihr Vater hassen nasse Fußböden. Das haben die beiden in der Vergangenheit öfter zu spüren bekommen.
Es war schon immer so. Anna war schon immer die stärkere von beiden. So mit Liebe und Fürsorge gefüllt, aber mit einem starken Willen. Sophia hat ihr schon immer nachgeeifert. So war es schon in Kindeszeiten, so ist es jetzt immer noch. Anna hat Sophia immer beschützt. Immer.
„Hey, schicke Unterwäsche. Hast du die extra für ein wenig Spaß angezogen?" Die schwarz gekleidete Anna versucht sie ein bisschen aufzumuntern, jedoch vergebens. Also muss etwas Schreckliches vorgefallen sein. Aber was wohl? Haben sie sich gestritten? Ist Dave etwas Schlimmes passiert oder etwas Tragisches? Oder haben sie sich... Nein, unmöglich. Dass diese beiden sich trennen ist so unwahrscheinlich wie ein 6er im Lotto mit Superzahl. Was auch immer es ist, es hat Zeit. Sie brachte ihre Schwester in das Badezimmer uns ließ für sie warmes Wasser ein. Für Anna wirkt sie innerlich zerrissen, kraftlos und...Traurig? Es war eine Art der Trauer, aber eine, die sie so noch nie gesehen hat. Hilflos und traurig, wie ein kleines Kind. Nichts als Besorgnis steht ihr im Gesicht. Sie nimmt Anna wahrscheinlich nicht wirklich wahr.
„So, du gehst jetzt in das warme Wasser und wärmst dich auf. Willst du mit mir reden oder willst du allein bleiben? Du weißt ja, vom Reden wird es meistens besser. Wenn du dich aber erst einmal ordnen musst..." Sophia hört wie eine Maschine auf ihre Schwester, entledigt sich ihrer Restkleidung, die sie auf die Waschmaschine wirft, wie üblich, wenn sie ein Bad nimmt. Das warme Wasser fühlt sich angenehm an, aber im Prinzip ist ihr das auch egal. Es könnte auch kochend heiß sein oder Lava, in welcher sie verbrennt. Dann hätte diese innere Unruhe und Leere ein Ende.
Auf Annas Frage zuckt sie abwesend mit den Schultern. Diese seufzt und hockt sich neben die warme Wanne, dabei winkelt sie ihre Beine an, eine ihrer Haltungen, die hilft um wach zu bleiben. „Na komm Schwesterchen, erzähl mal." Sophia behält solch private Dinge immer für sich und erzählt Cloe und Melissa meist auch nichts Derartiges. Bei ihrer Schwester ist dies aber ein Unterschied wie Tag und Nacht. Sophia schweigt eine Weile, bewegt sich nicht einmal, was Anna noch mehr Sorgen macht, als ohnehin schon. Was mag wohl vorgefallen sein?
„Ich weiß selber nicht so genau was passiert ist. Wir haben uns...uns wie üblich im Park getroffen, haben ein Vanilleeis gegessen und er hat mich nach einer schönen Spazierrunde zum Essen eingeladen." Sie macht eine Pause. „Und war das etwa alles?", fragt Anna verwirrt. „Ich hatte seit einigen Tagen dieses Gefühl, keine Bindung mehr zu ihm zu haben. Ohne jeglichen Grund. Ich sehe ihn nicht einmal mehr als Freund. Er ist mir Gleichgültig geworden. Ich kann nicht einmal darum weinen. Es kümmert mich nicht einmal." Und das war noch untertrieben. Wenn Dave sterben würde, wäre sie vermutlich die letzte, die auf seine Beerdigung gehen würde.
Anna schaut sich ihre Schwester genau an. Irgendetwas in Sophia muss vorgefallen, was sie erschüttert. Nur was? Es ist doch nichts vorgefallen, wenig hat sich verändert? Hat Anna etwas übersehen? Etwas derart Offensichtliches, dass es ihr nicht aufgefallen ist? Wenn ja, was?
„Ihr habt doch nicht etwa...?" Annas Befürchtung bestätigt sich durch ein Nicken ihrer Zwillingsschwester. Was zum Teufel kann einen Menschen so verändern, dass er aus dem Nichts eine beinah perfekte Beziehung fallen lässt, zumal die beiden als beliebtes, und überglückliches Paar bekannt sind, oder besser gesagt, bekannt waren. Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn, absolut keinen. „Ich verstehe es selber nicht Anna." Anscheinend hat sie ihr grübelndes Gesicht bemerkt. „Es... es tut mir so leid für dich, Schwesterherz. So unendlich leid."
In Sophias Gesicht ist keine Spur von Trauer zu bemerken und selbst die tröstenden Worte lösen bei ihr keine Reaktion aus.
Sie sieht verwirrt aus, sehr nachdenklich und irgendetwas beschäftigt sie, über was sie aber noch nicht gesprochen hat. Sie kennt ihre Schwester zu gut und erkennt sehr wohl, wenn sie etwas verschweigt. Sie spricht sie darauf aber nicht an, sie ist so schon verwirrt genug. „Pass mal auf. Wasch dir jetzt die Haare und dann schläfst du heute bei mir! Ich kann dich doch heute nicht allein schlafen lassen! Und vergesse bloß Flauschi nicht!"
Damit verschwindet sie aus dem Bad und hinterlässt ein kleines Lächeln auf Sophias Gesicht. Sie wäscht sich noch kurz ihre Haare, schlüpft in die Schlafkleidung nach dem Akt des trocknen und Föhnen. In ihrem Zimmer befolgt sie müde und kraftlos Annas vergangene Anweisungen. Sie schnappt sie sich ihren Plüschhasen Flauschi und geht danach zu Anna herüber, die schon auf ihre Schwester wartet. Flauschi. Ein Hase, der sie all die Jahre wie Anna beschützt hat. Ein teurer Freund, den Sophia selbst jetzt fast überall mit hinschleppt. Außer auf die Akademie. Sheppards gierigen Augen entgeht nichts. Besonders nicht ein Plüschhase.
Sophia schnappt sich ihr Kopfkissen und ihre Decke und läuft ohne Sinn oder Verstand zu Anna.
„Jetzt schlaf erstmal eine Runde und morgen reden wir weiter, falls du dich danach fühlst. In Ordnung?" Sophia nickt und folgt diesen Worten anschließend, indem sie sich auf das schwarze Doppelbett ihrer Schwester fallen lässt.
„Danke", bringt sie erschöpft heraus. Anna gibt ihr einen schwesterlichen Kuss auf die Stirn, bevor sie das Licht ausschaltet. Davon bekommt sie wenig mit. Sie fällt sofort in einen unruhigen Schlaf.

Der süße Kuss des Blutes |GirlxGirl [Abgeschlossen]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt