Prolog

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Meluhha war eine Legende. Die Legende eines heiligen Landes, welches sich nur denjenigen offenbaren würde, die sich seiner als würdig erwiesen. Auf der ganzen Welt erzählten sich Menschen Geschichten darüber, unter anderem von einer Handvoll besonderer Leute, die angeblich schon dort gewesen und wieder zurückgekehrt seien. Kaum einer, der von Meluhha sprach, hatte es tatsächlich schon zu Gesicht bekommen und selbst denen, die nicht logen, wurde in der Regel keinerlei Glauben geschenkt. Jeder Kontinent, jedes Land hatte seine Besonderheiten um die andere es beneideten, doch verblassten sie alle im Vergleich mit dem sagenumwobenen Reich Meluhha. Man erzählte sich, dass es den höchsten Geistlichen des Landes möglich sei, Kontakt zu den Göttern aufzunehmen, die die Menschheit geschaffen und die Erde geformt hatten. Seine Bewohner seien leuchtende, geflügelte Krieger mit gewaltigen  psychischen Kräften, die selbst den mächtigsten der Bermuthaner in den Schatten stellen würden. Doch wie es mit Gerüchten und Legenden nun einmal so ist, war an den meisten Erzählungen nicht viel Wahres dran.

All das war für das meluhhanische Volk vollkommen bedeutungslos. Sie hatten die Ehre gehabt, unter den Milliarden von Menschen, als sogenannte "Auserwählte" in Meluhha geboren, oder hier aufgenommen worden zu sein. Wie genau ihre Götter die Entscheidung fällten, welches Lebewesen der Kommunikation mit ihnen würdig sei, wusste niemand. Umso glücklicher waren die beiden jungen Eltern, Rahāl und Neriku, denen diese größte Ehre vor wenigen Jahren zuteilgeworden war. Man hatte sie in den Palast, das Zentrum der meluhhanischen Hauptstadt Lyiapatazia gerufen, um ihren Sohn den Göttern zu präsentieren.  Ein heiliges Ritual, dem die Führer Meluhhas, die Eltern des Kindes und natürlich der Auserwählte selbst beiwohnten, um die Segnung der Götter zu empfangen. Es galt als ungeschriebenes Gesetz, über den genauen Ablauf dieser Zeremonie kein Sterbenswort zu verlieren, um ihre Schöpfer nicht zu erzürnen.

Rahāl nahm den Kleinen Palk an die Hand und stapfte mit ihm über die weite Graslandschaft, die gewissermaßen eine natürliche Grenze zwischen der Hauptstadt und den Feldern Meluhhas bildeten. Abseits von Lyiapatazia selbst gab es viel Grün, eher wenig zu sehen für ein kleines Kind. Doch Palk war nicht wie andere Fünfjährige. Sein Interesse am Spielen mit anderen Kindern und dem Erkunden der Gegend hielt sich stark in Grenzen. Dies lag nicht zuletzt daran, dass er von den meisten Gleichaltrigen gemieden wurde, da sein außergewöhnliches Äußeres sie abstieß. Nicht dass er hässlich gewesen wäre, er war einfach nicht wie sie. Die Eingeborenen von Meluhha hatten mehrheitlich einen sehr blassen, oft weißen Hautton und helle, zumeist goldene Augen. Palks graugrünliche Hautfarbe war daher nur ein kleiner Teil seiner offensichtlichen Andersartigkeit. 

Der Junge besaß eine für sein Alter beeindruckende Intelligenz und schon jetzt hatte er für sich den Entschluss getroffen, andere Menschen so gut wie möglich zu meiden. Seine Eltern machten sich zunehmend Sorgen um sein psychisches Wohlergehen, da Palk ihnen immer wieder den Eindruck vermittelte, sich seiner Situation vollends bewusst zu sein. Gerade in diesem Moment verglich er sich gedanklich wieder mit den anderen Menschen denen er bisher so begegnet war.  Er schaute auf seine von Geburt an tiefschwarzen Fingernägel in der freien Hand hinunter. Palk hatte schon häufiger gehört, wie Fremde Erwachsene hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen hatten, dass es sich dabei um ein böses Zeichen handeln musste. Rahāl bemerkte das nachdenkliche Verhalten seines Sohnes sofort.

"Eines Tages wirst du auch Freunde finden, mein Junge", sagte er zuversichtlich und schaute zu Palk hinunter, der ihm ein kurzes Lächeln schenkte, dann aber wieder ernst wurde. In den Augen des Kindes gab es zwar noch dieses gewisse Schimmern eines friedliebenden, empathischen  Geistes, doch war es nicht jene Unschuld die die Leute darin erkannten. Sondern die Tatsache, dass seine Iriden zu je etwa einem Drittel blutrot strahlten, was sie zugleich finsterer und unheimlicher erschienen ließ als seine Seele in Wirklichkeit war. 

Palk - Finde dein Schicksal [Überarbeitung seit 08.2023]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt