Kapitel 1: Ältester Yurenas

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20 Jahre später

03. Asiiya des Jahres 1906 nach dem utopischen Kalender; 

In Lyiapatazia, der Hauptstadt Meluhhas 

Die warme Mittagssonne strahlte über der abgerundeten Spitze des "Aussichtsturmes", dessen Name für das imposante, schneeweiße Bauwerk ebenso unpassend erschien wie seine Existenz an sich. Im Südosten Lyiapatazias gelegen, war er nicht allzu weit von der Stadtgrenze entfernt und besaß nur ein einziges kleines Fenster, welches nicht einmal zum Stadtzentrum hin ausgerichtet war. Zudem wirkte der scheinbar kaum genutzte Turm eher wie ein an falscher Stelle errichtetes Nebengebäude des Palastes. Dennoch hielt Palk sich gern hier auf. Es war still, friedlich und gut um den Kopf frei zu bekommen.

Der Raum in dem er sich befand, war seines Wissens nach der einzige im gesamten Bauwerk und erinnerte ein wenig an einen ausgebauten Dachboden. Er war kreisrund und überall an den Wänden um Palk herum befanden sich uralte hölzerne Schränke und kleine Tischchen, die zum Teil mit allerlei Plunder vollgestopft waren. Palk hatte keine Ahnung, wem das ganze Zeug gehörte, doch hatte bisher niemand gegen seine Anwesenheit oder die Nutzung irgendwelcher Gegenstände protestiert. 

Inzwischen hatte der junge Mann sich einen guten Ruf in der Bevölkerung aufgebaut und die vielen Vorurteile gegen sein spezielles Äußeres weitestgehend hinter sich lassen können. Jedoch gab es speziell unter seinen Altersgenossen noch immer einige, die sich strikt weigerten ihn anzuerkennen. Palk wusste jedoch um seine Talente und ließ sich davon nicht runterziehen. Ganz besonders dann nicht, wenn er im Aussichtsturm war. Kaum einer von ihnen machte sich die Mühe, die hunderten von Stufen nach oben zu steigen, nur um eine sinnlose Auseinandersetzung zu beginnen, die vermutlich nicht mal zu ihren Gunsten ausgegangen wäre. 

Palks Blick schwenkte in Richtung der hölzernen Grenzmarkierung von Lyiapatazia, die man erst vor einigen Jahren errichtet hatte. Hinter dieser befand sich ein ländlicheres Gebiet, in dem der Mann lebte, dem er alles verdankte. Der alte Yurenas war mehr als nur ein hingebungsvoller Ziehvater für Palk, er war ihm seit nunmehr 20 Jahren ein treuer Freund und Ratgeber. Doch nun war es an der Zeit, ein wichtiges Gespräch mit ihm zu führen. Das Leben war eintönig geworden und die vergangenen Monate hatten in Palk eine Bisher unbekannte Sehnsucht nach Neuem und Unbekanntem geweckt. Darum hatte er endgültig den Entschluss gefasst, seiner Heimat fürs Erste den Rücken zu kehren und neue Erfahrungen in der Welt außerhalb Meluhhas zu sammeln. 

Erst vor einigen Wochen hatte er seine Reifeprüfung abgelegt. Ein wichtiges und traditionell wertvolles Ritual, dessen Bestehen ihn offiziell als volljährig auszeichnete. Für die meisten Meluhhaner bedeutete dies jedoch zugleich, dass sie nun einer gefestigten Arbeit nachgehen und ihren Alltag sorgfältig planen mussten. Dieses Schicksal war Palk bisher erspart geblieben, da er gute Kontakte zum Ältestenrat hatte und ihnen hin und wieder persönliche Gefälligkeiten erwies. Dies war auch der Grund, weshalb nie jemand auf die Idee gekommen war, ihm wegen seiner beinahe häuslichen Einrichtung im Turm Schwierigkeiten zu machen. 

Seit einiger Zeit verbrachte der junge Mann immer mehr Nächte im Aussichtsturm, einige hundert Meter von der nächsten Häuserreihe entfernt. Für ihn gehörte es zum Prozess des Erwachsenwerdens dazu, so gut wie möglich für sich selbst zu sorgen und allein auszukommen. So hatte es ihm sein letzter Lehrmeister damals erklärt, welcher ihn abseits von Yurenas ausgebildet hatte.

Palks Blick ging zu der kleinen braunen Tasche mit dem einzelnen Schultergurt, die er neben sich auf dem Boden abgelegt hatte. Darin befand sich alles Materielle, das ihm je etwas bedeutet hatte und das er nicht bereit war in einer seiner Heimstätten zurückzulassen. Er seufzte, warf sich die Tasche über und wandte sich zum Gehen. 

Bevor er den ersten Schritt tun konnte, wurde die massive Holztür aufgestoßen und ein junger Mann kam hereingestapft. Sein schneeweißes Gesicht und die fast reinen, goldenen Augen wiesen Lakran klar als Meluhhaner in fortgeschrittener Generation aus. Sein etwas spitz zulaufendes Kinn und der blonde Lockenkopf weckten in Palk allerdings jedes Mal den Gedanken, eine mutierte Pilzart vor sich zu haben wenn sie sich begegneten. Lakran sah ihn abschätzig an und atmete etwas schwerer durch den langen Aufstieg. 

Palk - Finde dein Schicksal [Überarbeitung seit 08.2023]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt