Lady Atokēla ließ sich von diesem unerwarteten Ärgernis nicht beirren und begann zu erzählen, während Palk und Lakran langsam ihre Fassung zurückgewannen.
„Vor fast genau zwanzig Jahren – ihr müsstet beide so etwa fünf gewesen sein – hat sich über unserer wunderbaren Hauptstadt auf einmal eine Art Portal geöffnet. Natürlich waren viele von uns in Panik, weil ja niemand wusste, was uns erwarten würde. Jedenfalls kam aus diesem Dimensionsspalt einer unserer Götter."
„Wie bitte?!" rief Palk entsetzt.
„Die Götter sind also wirklich schon hier in unserer Welt gewesen und ihr konntet sie richtig sehen?" wollte Lakran wissen, der schockiert die Hände vor den Mund hielt.
„Ja, so ist es!" bestätigte Lady Atokēla in einer betroffenen Tonlage. „Aber dieser Gott war etwas vollkommen Anderes, als ihr euch das jetzt vorstellen mögt. Er war eine schreckliche Bestie, ein Wesen mit einer absolut finsteren Aura und dem Aussehen eines Dämons. Er war so grauenerregend. Ohne jeden Grund, ist er nach Lyiapatazia gekommen und hat wahllos Menschen abgeschlachtet. Wäre der Ältestenrat nicht gewesen, würde es keinen mehr von uns geben."
Es blieb einen Augenblick lang still. Palk starrte fassungslos zu Boden und Lakran hatte die Augen weit aufgerissen und die zitternden Hände zu Fäusten geballt, die er aneinander rieb, als versuchte er, das schreckliche Gefühl in seinem Inneren dadurch zu lindern.
„Und dieses...Ding hat unsere Eltern getötet?" brachte Palk heraus und Lady Atokēla lief ein leichter Schauer über den Rücken, obwohl sie die Geschichte bereits kannte. Sie nickte stumm, schloss wieder die Augen und fuhr dann langsam fort.
„Es hat sie alle getötet. Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, was der Grund für seinen Hass gegen uns war, aber er war zweifellos ein Gott. So schnell, dass Tiraitān in einem Rennen vielleicht unterlegen gewesen wäre und so stark und gnadenlos, dass ich es nicht beschreiben kann. Ich war eine der Ersten vor Ort. Gemeinsam haben wir alles versucht, um diese verfluchte Bestie in ihre eigene Welt zurückzuschicken, aber es hatte schon zu viele Tote gegeben." Sie atmete tief durch und sah dann Lakran an. „Willst du wissen, was deine Eltern für Leute waren?" fragte sie ihn und keiner der Anwesenden konnte ihre Stimmlage richtig deuten. Lakran nickte zurückhaltend.
„Obwohl sie nichts weiter als normale Menschen waren, gehörten sie zu denen, die die Ältesten im Kampf gegen den dunklen Gott unterstützt haben. Sie haben ihren ganzen Mut zusammengenommen und sind quasi blind in die Gefahr hineingelaufen. Ihnen war nicht wichtig, ob sie leben oder sterben würden. Sie wollten einzig und allein, dass du am Leben bleibst und haben dafür ihre eigenen Leben gegeben. Und als Familienmitglieder des Ältesten Uvāri, waren sie nicht nur sehr mutig, sondern auch ziemlich gut. Aber es hat ihnen leider nicht viel genützt." Lakran sagte gar nichts, kämpfte nur mit den Tränen, doch als sein Freund ihm eine Hand auf die Schulter legte, verlor er ihn und brach zu dessen Füßen zusammen.
Schweigen breitete sich in der Höhle aus.
„Sie waren Helden." murmelte Palk, ohne jemand Speziellen zu meinen. Dann hockte er sich neben Lakran, um ihm beizustehen. Im Trösten war er immer eine absolute Niete gewesen, doch er wusste instinktiv, dass er für seinen Freund da sein musste. Er wandte seinen Kopf der Frau auf dem Thron zu, die mit traurigen Augen zu ihnen hinübersah und stellte eine weitere Frage.
„Ich muss noch etwas Wichtiges erfahren. Ein alter Freund sagte mir vor langer Zeit sinngemäß, dass ich eines Tages auf die wahre Bedeutung meines Leben kommen würde und dass es einen Zusammenhang zwischen meinem Leben und der Geschichte des Landes geben würde. Können Sie mir sagen, was es damit auf sich hat?"
„Das kann ich vermutlich." antwortete Lady Atokēla freundlich. „Aber du darfst es nicht allzu ernst nehmen, denn ich kann dir nur sagen, wie ich die Lage beurteile." Palk nickte und sie sprach weiter. „Dieser dunkle Gott, der uns angegriffen hat, hatte im Grunde keine Ähnlichkeit mit dir. Aber es gab zwei Punkte, die zwischen dir und diesem Wesen identisch waren und – nur unter Umständen – hat sich das in die hintersten Winkel der Köpfe der Menschen eingebrannt."
„Was denn nun?" Mit zappligen Armen, fuchtelte er vor dem Thron herum.
„Deine Augen." entgegnete Lady Atokēla. „Diese blutroten Augen mit dem Sichelförmigen Muster. Ich finde sie auch so schon unheimlich genug, aber gerade als jemand, der das Alles miterlebt hat...vielleicht ist diese Einzelheit irgendwie im Unterbewusstsein der Zeugen hängengeblieben. Und diese schwarzen Fingernägel, die du hast. Das sind die Gleichen, wie der dunkle Gott sie hatte."
Sie kam nicht dazu, weiter zu sprechen, denn Palk blickte zuerst gedankenversunken auf seine Fingernägel und dann wieder zu ihr.
„Deshalb haben sie angst vor mir." sagte er leise. „Darum haben mich dir anderen Kinder immer gemieden und deshalb..-. Sekunde!" unterbrach er sich selbst. „Ich bin doch wohl mit diesem Aussehen geboren worden, oder nicht? Wie kann es sein, dass man mich schon Jahre vor dem Angriff dafür gefürchtet hat, dass ich so aussehe? Hat es was mit dieser alten Geschichte zu tun? Dass die Götter mich..-"
„Nun hast du die volle Wahrheit erkannt, Palk." Lady Atokēla erhob sich langsam und kam auf ihn zu. Lakran hatte sich wieder beruhigt und die beiden standen nun vor der geheimnisvollen Frau in schwarz. Sie blickte Palk eindringlich in die Augen. „Du weißt es. Nicht wahr?"
Erneut Stille. Dann legte Palk den Kopf schräg und blickte auf seine leicht gefalteten Hände hinunter. Schließlich erwiderte er den Blick in ihre grünblauen Augen. Und endlich begriff er.
„Ich bin ein Halbgott." sagte er so leise und mit einer so kratzigen Stimme, dass Lakran es neben ihm beinahe nicht gehört hätte. „Ich bin ein Halbgott." wiederholte er etwas deutlicher. „Dann stimmen die Gerüchte. Dieses ganze Zeug von wegen den Göttern präsentiert werden und aufsteigen und der göttliche Segen. Ich weiß alles wieder!" Er wurde immer lauter, sein Tonfall euphorischer und Lady Atokēla wunderte sich über den gewissen Schimmer der Freude in den Augen ihres Gegenübers.
„Du kannst dich also tatsächlich an Dinge erinnern, die man dir gesagt hat, bevor das Siegel des Schweigens über die ganze Sache gelegt wurde?" fragte sie stark irritiert.
„Ich kann mich wieder erinnern. Meine Mutter hat mich zum Schlafen gebracht, als dieser Knall da war und dann dieser...der dunkle Gott." er hielt einen Moment inne und versuchte sich zu konzentrieren. „Ich hab ihn gesehen! Ich weiß es wieder! Ich hab ihn noch gesehen, bevor meine Mutter mich in dieser Loch in der Erde gelegt hat. Danach bin ich in Yurenas' Haus aufgewacht, aber ich hab ihn noch gesehen!"
„Wenn ich mich kurz einmischen darf." schaltete sich Lakran ein. „Kann mir einer von euch sagen, warum wir noch leben? Und ganz besonders du, Palk! Ich weiß ja nicht, was mit mir war, aber du bist sogar dagewesen, als deine Eltern...du weißt schon."
„Sie sind nicht einfach so gestorben." widersprach Lady Atokēla. „Die beiden sind ein ganzes Stück vom eigentlichen Geschehen entfernt gefunden worden. Sie müssen sogar die Ersten gewesen sein, die gegen den dunklen Gott gekämpft haben." sagte sie nachdenklich und schon wieder war es still.

DU LIEST GERADE
Palk - Finde dein Schicksal [Überarbeitung seit 08.2023]
FantasyDer gerade volljährig gewordene Meluhhaner Palk plant, seine Heimat zu verlassen und die Welt zu entdecken. Doch während er zu diesem Zweck einige Verbündete um sich schart, geschehen schreckliche Dinge und finstere Geheimnisse kommen allmählich ans...