Kapitel 23: Das Erbe eines Halbgottes I

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Makān war der Entschluss, Lyiapatazia für immer den Rücken zu kehren, nicht schwer gefallen. Schließlich hatte er weder eine persönliche Bindung zu jemandem aufgebaut, noch fühlte er sich dort sonderlich wohl. Warum er all die Jahre dort geblieben war, konnte er sich selbst kaum erklären. Ihm war klar, dass man nun nach ihm suchen würde und vermutlich würden die Ältesten alles daran setzen, ihn auszulöschen, um der Welt eine Gefahr zu nehmen.

Er hatte den Weg eingeschlagen, der eigentlich für ihn und sein früheres Team vorgesehen gewesen war, um die Suche nach Tiraitān möglichst effektiv auszuweiten. Er nahm immer den Weg, auf dem es am wenigsten Licht gab. Obwohl seine Augen trüb wirkten und er darunter dicke, schwarze Ränder hatte, war er nicht müde. Er wurde nie müde. Müdigkeit war ein Wort, das in seinem Wortschatz überflüssig war und wenn er mal schlief, dann nur, um seine Energie wieder voll aufzuladen. 

Makān wusste nicht, wie lange er schon gelaufen war, als er stehen blieb und in der Spätnachmittagssonne, einen dunkel gekleideten Mann erblickte, der mitten auf einem Hügel stand und ihn mit seinen glühenden Augen fixierte. Wären die stechenden roten Augen nicht gewesen, hätte Makān nicht einmal erkennen könne, in welche Richtung der Unbekannte sah.

Mit einer elegant anmutenden Handbewegung, wies der Fremde ihn an, näher zu kommen, was Makān auch sofort tat. Die beiden trennten nur noch wenige Meter voneinander, als er den Hügel bestieg und ihm fiel gleich die Ähnlichkeit zwischen ihnen auf. Die Haut des Fremden war noch dunkler als seine eigene und sie besaßen die gleichen Augen, sowie eine ähnliche Statur, nur dass der Andere noch dünner und noch größer war. Makān schätzte den Mann mit dem weißen Bart auf etwa 1,95 Meter und ungefähr einhundert Jahre.

"Hab ich dich also doch noch gefunden", raunte der Fremde und obwohl seine Stimme sehr tief war, hatte sie einen weichen und irgendwie lauernden Klang. Sein Kopf mit dem weißen Haar, das wirr zu allen Seiten Abstand, neigte sich ein paar Mal von rechts nach links. Er musste schon eine Weile so dagestanden und auf Makān gewartet haben.

"Kennen wir uns?", wollte Makān wissen, machte sich jedoch weder die Mühe, ihm seine Hand hinzuhalten, noch bedrohlich zu wirken. Er stand einfach nur da und sah den dürren Mann mit dem finsteren Äußeren an.

"Das will ich doch wohl annehmen", erwiderte der ruhig. "Du bist schließlich mein Sohn", zischte er und grinste. Über Makāns ausdrucksloses Gesicht, legte sich eine Mischung aus Skepsis und Ärger.

"Ich hab keinen Vater. Der ist schon seit Jahren tot."

"Aber nicht doch", widersprach der Dürre. "Man hat dir nur gesagt, ich sei tot. Du solltest nicht auf die Idee kommen, nach mir zu suchen, damit du die Wahrheit nicht erfährst."

"Welche Wahrheit?", fragte Makān ernst, verzog aber keine Miene.

"Der wahre Grund, warum man mich aus Lyiapatazia verbannt und dir gesagt hat, ich wäre tot", antwortete der Andere.

"Du hast mir selbst davon erzählt, als ich jünger war", meinte Makān. "Dass du Kontakt zu den Göttern hattest und dadurch zum Halbgott geworden bist und weil sie solche Angst vor deiner Kraft hatten, haben sie dich vertrieben."

"Hast du nie darüber nachgedacht, dass diese Version der Geschichte, gar keinen Sinn macht?", fragte der seltsame Mann und sein Ton klang etwas spöttisch. "Warum haben sie mich wohl als Einzigen vertrieben, während andere, die wie ich sind oder waren, ihr gewöhnliches Leben weiterführen konnten?"

"Das wirst du mir sicher gleich verraten", entgegnete Makān noch immer skeptisch.

"Kannst du dich daran erinnern, dass vor zwanzig Jahren, all diese Menschen gestorben sind?", fragte der Mann und grinste auf ihn herunter.

"Logisch, es gab damals mehr als 300 Opfer", antwortete Makān kühl.

"Schwachsinn, es waren weit über tausend", lachte der Dürre und wurde gleich wieder ernst. "Dieses scheinheilige Gesindel, das sich Ältestenrat schimpft, hat eine ganze Menge, ziemlich wichtiger Informationen zurückgehalten und nicht nur das. Sie haben der Bevölkerung sogar verboten, jemals wieder darüber zu sprechen", erzählte er und Makān runzelte argwöhnisch die Stirn.

"Mal angenommen, du bist wirklich mein Vater. Du wirst mir sicher sagen können, wie man dich genannt hat und woher du kommst", verlangte er und verschränkte erwartungsvoll die Arme vor der Brust, doch der Andere brauchte gar nicht zu überlegen.

"Schon bevor du geboren wurdest, kannte man mich auf der ganzen Welt unter dem Namen Kobra. Sie hatten viele Namen für mich. Der kriechende Tod, schleichendes Verderben und Schlangengott haben sie mich später auch genannt. Ich wurde in dem Land Ānarok geboren und bin dann als Auserwählter nach Meluhha gekommen. Ist das damit alles, was du wissen willst?" Gelangweilt legte der Mann seinen Kopf zur Seite und wartete.

"Warum hast du nie versucht, mich zu kontaktieren?", wollte Makān wissen.

"Du warst nicht bereit, ganz einfach", antwortete der Fremde, der sich Kobra nannte.

"Nicht bereit wofür?"

"Für die ganze Wahrheit." Makān sah ihn an. Es lag nichts Warmes in seinem Blick.

"Sag mir, warum ich zu dem geworden bin, wovor alle Angst haben", forderte er.

"Du sprichst von deiner Verwandlung in einen Halbgott", säuselte Kobra und grinste wieder.

"Woher weißt du..-"

"Ich konnte es spüren und ich hab es mit meinen eigenen Augen gesehen", unterbrach Kobra ihn. "Als du deine wahre Gestalt angenommen hast, bin ich zu dir gekommen und habe dich in deiner vollen Schönheit bewundert, mein Sohn." Er lachte triumphierend, als hätte er etwas mit der Sache zu tun gehabt.

"Wie, du hast es gespürt?", hakte Makān nach.

"Halbgötter haben so eine Art Verbindung zueinander, wenn sie diese Fähigkeit lang genug üben. Wir können die Präsenz von anderen Göttern spüren und je länger du an deinen Kräften arbeitest, desto mehr bekommst du", erklärte Kobra ihm. 

"Wenn du ein Halbgott bist und ich als dein Sohn auch, werden dann auch meine Kinder Halbgötter sein?", fragte Makān und Kobra musste kichern.

"Die Wahrscheinlichkeit, dass deine Kinder das Potenzial haben, zu Halbgöttern hochgestuft zu werden, liegt so ungefähr bei 25 Prozent. Sie haben zwar die erblichen Voraussetzungen, aber es zählen auch andere Faktoren, die ich dir jetzt nicht erklären kann."

"Hat es bei mir was damit zu tun, dass ich Einzelkind bin?" Makāns Stimme war etwas weicher geworden und er bemühte sich, nicht mehr so feindselig zu wirken.

"Junge, ich hab nie behauptet, du seist ein Einzelkind", entgegnete Kobra lachend.

Palk - Finde dein Schicksal [Überarbeitung seit 08.2023]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt